Auge um Auge
ich komme nicht näher an ihn heran. Zu viele Leute stehen mir im Weg und bilden eine Mauer.
»He, Reeve!«, rufe ich wieder und boxe mich durch. Er hört mich immer noch nicht. »Reeve!« Ich hole tief Luft. » REEVE !«
Ein plötzlicher Wind fährt herein, mit einer solchen Kraft, dass auf einen Schlag die Türen sämtlicher Schließfächer zuknallen. Das Geräusch füllt den ganzen Flur wie ein gewaltiger metallener Donnerschlag.
Reeve bleibt stehen und dreht sich um. Alle machen das.
»Was zum Teufel war das denn?«, fragt jemand.
»Woher soll ich das wissen?«
»Ein Sturm?«
»Quatsch, wir kommen doch gerade von der Turnhalle. Draußen scheint die Sonne.«
Einen Augenblick lang ist es noch einmal ganz still. Dann läutet die Schulglocke zum zweiten Mal. Das Gebäude erwacht wieder zum Leben. Alle kümmern sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten.
Ich drehe mich um und gehe in der entgegengesetzten Richtung davon. Ich habe nur einen Gedanken: Ich muss hier raus.
11 LILLIA Ich liege auf meinem Bett, mit offenen Augen und schon für die Schule angezogen.
In der Nacht habe ich nicht geschlafen. Wie sollte ich auch, wo ich doch keine Ahnung hatte, wo meine Schwester war? Auch noch nachdem Alex Nadia abgesetzt hatte und ich hörte, wie sie die Treppe heraufschlich, wie ihre Tür leise quietschend aufging und wieder geschlossen wurde, konnte ich nicht schlafen.
Ich glaube kaum, dass Rennie mich abholt, so wie wir gestern auseinandergegangen sind. Ich warte noch bis zehn vor acht, dann sage ich Nadia, sie solle sich in mein Auto setzen, ich würde heute fahren.
Danach spricht keine von uns ein Wort.
Auf der ganzen Fahrt versuche ich, irgendeine logische Erklärung zu finden für das, was war. Was können die beiden miteinander getan haben, mitten in der Nacht? Vielleicht wollte er sein Hemd zurückhaben und hat sie zu Janelle gefahren, um es zu holen. Vielleicht habe ich Nadia ein so schlechtes Gewissen gemacht, dass sie sich bei ihm entschuldigen wollte, weil sie ihren Erdbeer-Daiquiri verschüttet hat. Vielleicht hat ja auch sein Teppich etwas davon abbekommen. Oder vielleicht planen sie eine Überraschungsparty zu meinem Geburtstag. Mitten in der Nacht. Im Wald.
Alex Lind und meine kleine Schwester. Ich will gar nicht daran denken. Sonst werde ich so wütend, dass mir die Luft wegbleibt.
Kurz vor der ersten Stunde taucht Rennie hinter meiner offenen Schließfachtür auf. Sie trägt ein lose sitzendes, weit ausgeschnittenes Top, das eine Schulter freilässt, dazu Leggings und Römersandalen. In der Hand hält sie zwei Kaugummilollis wie einen Strauß Blumen. »Friedensangebot«, sagt sie. »Einer für dich, einer für mich.«
»Nein, danke«, sage ich. Glaubt sie im Ernst, mit einem Lolli könnte sie alles wieder gutmachen? Hätte sie mich nicht zu der Party geschleppt, wäre nichts von alldem passiert.
»Ich hab gestern versucht, dich anzurufen«, sagt sie. »Anscheinend warst du in einem Funkloch.«
Praktisch die ganze Insel ist ein Funkloch. »Ich hatte jedenfalls keine entgangenen Anrufe. Wieso hast du’s nicht bei mir zu Hause probiert?«
Ich sehe ihr an, dass sie dabei ist, die nächste Lüge zu erfinden, aber anscheinend fällt ihr nichts ein. Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Okay, ich entschuldige mich in aller Form«, sagt sie schließlich. »Tut mir leid, dass ich gestern einfach abgehauen bin, das war blöd. Aber jetzt komm, das ist wirklich albern. Wir streiten uns doch nie, du und ich.« Sie lehnt sich an das Schließfach neben meinem und sieht mich besorgt an. »Ich weiß, die letzten Tage waren ziemlich irre, aber ich verspreche dir, unser Senior-Jahr wird trotzdem super.«
Ich nehme den Lolli und wickle ihn langsam aus. Unser Senior-Jahr ist mir inzwischen völlig egal.
»Also, was ist – Frieden?«
Ich blicke auf und sehe Kat im Treppenhaus stehen. Sie beobachtet mich.
»Ja«, sage ich schnell zu Rennie. »Frieden.«
»Schön. Kommst du schnell mit zu Mrs. Gismond? Ich muss ihr noch meinen Laborbericht abliefern.«
Ich werfe einen Blick über Rennies Schulter.
Kat formt mit den Lippen die Worte: Wir müssen reden.
Mir dreht sich der Magen um. »Eigentlich wollte ich gerade ins Sekretariat, was abgeben. Wir sehen uns gleich im Klassenzimmer, okay?«
Rennie nickt und kneift mich leicht in die Wange. »Bis gleich dann.«
Ich sehe ihr nach. Als sie an Kats Spind vorbeikommt, macht sie ihn auf und schmeißt ihren angeleckten Lolli hinein wie in einen
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