Auge um Auge
sah, dass die beiden sich stritten. Schließlich stieg Reeve aus. Die Tür knallte er ganz laut zu.
»Hey«, sagte er mürrisch. »Tut mir leid wegen der Verspätung. Meine Mutter musste erst noch meine Brüder zu einem Spiel bringen.«
»Schon gut!« Ich nahm ihn bei der Hand und zog ihn zum Haus. Ich wusste, er hatte nicht kommen wollen. Ich wusste, dass seine Mutter ihn vermutlich gezwungen hatte, aber ich war so froh, dass er da war.
Tante Bette und mein Vater standen unter dem Basketballring und tranken Kaffee. Sobald sie Reeve und mich sahen, traten sie in Aktion. Tante Bette stellte die Stereoanlage an, und sogleich war die Luft erfüllt von Zirkusmusik. Dad schnappte sich den Block mit den Kärtchen für die Spiele und riss einen großen Streifen für Reeve ab.
»Es ist also keiner gekommen?«, fragte Reeve.
Ich antwortete nicht. Stattdessen zog ich ihn zum Tisch mit dem Essen. »Hast du Hunger? Es gibt Hotdogs, Zauberwatte, Popcorn, was du willst.«
Reeve seufzte. »Ich glaube, ich nehme einen Hotdog.«
Ich machte ihm einen. »Mit Ketchup oder mit Senf?«
»Ketchup.«
Etwa da kam meine Mutter zurück. Allein. Sie sah ärgerlich aus, doch als sie Reeve entdeckte, hellte sich ihre Miene auf. »Reeve – wie schön, dass du kommen konntest«, sagte sie.
»Ähm – ich glaube, sie haben eben im Radio gesagt, dass es auf dem Festland regnet. Bestimmt denken die anderen alle, die Party fällt aus.« Er lief rot an.
Ich sah ihn dankbar an. »Das muss es sein, Mom«, sagte ich. Dann fiel mein Blick auf die Schachtel in seiner Hand. Sie war mir sofort aufgefallen, als er aus dem Auto stieg. Eine kleine weiße Schachtel mit einem rosa Seidenband. Die konnte nur für mich sein.
»Hier«, sagte er und schob sie mir hin. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Ich packte sofort aus, ich konnte nicht mehr abwarten. Reeve sah mir zu. Statt seinen Hotdog zu essen, schaute er mir über die Schulter.
Er hatte mir eine Kette mitgebracht, mit einem Gänseblümchenanhänger aus Email, zarte weiße Blütenblätter um einen gelben Kreis. Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen. Meine Hände zitterten so, dass ich mir die Kette nicht selbst umlegen konnte. Mom musste mir mit dem Verschluss helfen.
Reeve sah mich nervös an. »Ist die okay?«
»Sie ist wunderschön«, sagte ich.
Trotz allem, was später passiert ist – an jenem Tag war er gut zu mir. An dem Tag, an dem ich ihn am meisten brauchte, war Reeve mein Freund.
Die Kette glänzt noch immer, sie ist kein bisschen angelaufen. Und so traurig es ist – sie zu tragen macht mich glücklich. So glücklich wie damals, als Reeve sie mir schenkte, an meinem zwölften Geburtstag, vor langer, langer Zeit.
34 LILLIA Rennie und ich machen uns bei mir zu Hause für den Ball zurecht. Das ist schon Tradition. Mom überlässt uns dann immer ihr Schlafzimmer. Beim Entwurf für unser Haus hat sie für sich und Dad ein großes Schlafzimmer mit eigenem Bad und ein angrenzendes Ankleidezimmer mit dreiteiligem Spiegel eingeplant. Außerdem ließ sie vom Elektriker unterschiedliche Lichtsysteme einbauen – für Tageslicht, Abendlicht und Bürolicht. So sind Rennie und ich mit Sicherheit perfekt geschminkt und frisiert.
Meine Mutter hat Unmengen wunderschöner Kleidung – von Chanel, von Dior oder auch Vintage-Kleider von Halston. Bodenlange schulterfreie Abendkleider, Seidenblusen mit Schleife am Kragen, Tweedkostüme. Definitiv nichts, was ich zur Schule anziehen würde, aber Mom sagt, wenn ich erst mal zwanzig bin, macht sie ein Vorhängeschloss an ihren Kleiderschrank.
Es ist stickig im Zimmer, durchs Fönen und die Lockenstäbe hat sich die Luft aufgeheizt. Ich öffne die gläserne Schiebetür zum Balkon. Unten im Patio sitzen Mom und Ms. Holtz bei einem Glas Weißwein und sehen zu, wie der Himmel sich rosa verfärbt, während über dem Wasser die Sonne untergeht. Ms. Holtz zündet sich eine Zigarette an. Aschenbecher gibt es in unserem Haus nicht, also nimmt Mom ein Teelicht aus einem Leuchter aus Glas, den sie aus Italien hat kommen lassen, und stellt ihr den hin. Ms. Holtz und sie sind befreundet, das schon, aber als enge Freundinnen würde ich sie wiederum nicht bezeichnen.
»Lillia!«, ruft Nadia aus dem Bad. »Kannst du mir bitte, bitte, bitte die Augen schminken?«
Nadia ist nervös, weil sie ein Date hat. James Melnic, ein Sophomore, hat sie gefragt. Er ist nicht sehr groß, scheint aber ganz nett. Ich habe Alex nach ihm gefragt, weil er ihn vom
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