Auge um Auge
Alex«, sage ich und schließe die Hand fest um das Glasröhrchen. »Sie hat ein wildes Gerücht gehört, du hättest einmal bei Alex übernachtet. Sie ist hergekommen, um dir zu drohen.«
Nadia wird bleich. »Aber wir haben doch nie ...«
»Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Ich hab ihr gesagt, dass du so was nie tun würdest. Ich hoffe nur, sie glaubt mir.«
Nadia tritt vom Eingang zurück. »Lillia! Was soll ich denn jetzt machen?«
Ich schließe schnell die Tür hinter uns, um die Situation noch ein bisschen dramatischer zu machen. »Sag einfach niemandem, dass sie hier war. Gib ihr keinen Grund, noch mal mit dir sprechen zu wollen. In der Schule und zu Hause kann ich dich beschützen, aber ich bin ja nicht rund um die Uhr mit dir zusammen. Also halt dich fern von ihr.« Ich sehe sie streng an. »Okay?«
Nadia nickt und sagt leise: »Danke, dass du zu mir gehalten hast.«
»Ist doch klar«, sage ich, weiche aber ihrem Blick aus. »Du bist schließlich meine Schwester.«
Spontan kommt Nadia auf mich zu und umarmt mich fest, bevor sie wieder nach oben flitzt.
Ich schließe die Tür ab und stoße einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann gehe auch ich nach oben.
An der Innenseite meiner Tür hängt mein Ballkleid. Ich stelle die Schuhe raus und lege die Clutch griffbereit hin, die ich von Mom geborgt habe. Da hinein kommt das Ecstasy. In die kleine seidengefütterte Innentasche, in die eigentlich der Lippenstift gehört.
Dann lösche ich das Licht und lege mich endlich ins Bett.
Hoffentlich schlafe ich schnell ein. Morgen ist ein großer Tag.
33 MARY Auf meinem Bett stapeln sich die Kleider, alle, die ich mitgebracht habe nach Jar Island. Sechs habe ich schon anprobiert, aber keins ist richtig für heute Abend. Ich ziehe Nummer sieben an, ein weißes Kleid mit Spitzenbesatz und einem Krinolinenrock, in dem ich wie ein Baby in einem übergroßen Taufkleid aussehe. Aber heute Nacht will ich schön aussehen. So schön, dass ich auch selbst Homecoming-Queen werden könnte, wenn ich nicht die Neue wäre, wenn ich nie hätte wegziehen müssen.
Während ich den Stapel durchschaue, überlege ich, ob Tante Bette vielleicht etwas hat, das ich ausleihen könnte. Oder ob die Zeit vielleicht noch reicht, zu der schicken Boutique an der Third Street in White Haven zu gehen. Da kostet ein Kleid so um die dreihundert Dollar, aber ich bin mir ziemlich sicher, Mom wäre auch der Meinung, dass die Ausgabe sich lohnen würde. Damit ich heute gut aussehe, meine ich. Nicht nur gut. Heute Abend muss es perfekt sein. Auch wenn Ashlin die ist, die zur Homecoming-Queen gekrönt wird – dieser Abend gehört mir.
Dann finde ich es, ganz zuunterst im Stapel. Ein Kleid, von dem ich nicht einmal mehr weiß, wann ich das gekauft haben sollte. Ein langes, fließendes Kleid in Muschelrosa, auf einer Seite schulterfrei. Viele Lagen Chiffon übereinander. Ich schaue aufs Etikett. Es stammt genau aus der Edelboutique.
Auf einmal ist mir alles klar – Tante Bette. Ich habe ihr erzählt, dass ich auf diesen Ball gehe. Sie muss es als Überraschung für mich gekauft und in meinem Schrank versteckt haben. Fast kommen mir die Tränen!
Schnell steige ich aus dem weißen Taufkleid und probiere das neue an. Selbst hätte ich so ein Kleid nie ausgesucht. Während ich es überstreife, hoffe ich, dass es mir auch steht. Es ist so schick und so außergewöhnlich und definitiv das teuerste Kleidungsstück, das ich je besessen habe. Um das zu wissen, muss man nur den Stoff berühren, der sich wie fein gesponnene Zuckerwatte auf der Haut anfühlt.
Langsam gehe ich zum Spiegel hinüber und schaue mich an. Es ist so schön! Schöner als schön! Einfach perfekt! Genau so habe ich mir gewünscht auszusehen, wenn Reeve heute Abend seinen Absturz erlebt.
Ich laufe aus dem Zimmer, um mich bei Tante Bette zu bedanken und ihr zu zeigen, wie gut das Kleid passt. Sie ist weder in ihrem Schlafzimmer noch unten, also versuche ich’s in ihrem Atelier. Seit ich wieder hier wohne, bin ich noch kein Mal da oben gewesen. Es ist ihr privater Arbeitsraum, in dem sie nicht gestört werden will, wenn die Tür geschlossen ist. Was bislang immer der Fall war. Doch heute steht die Tür offen, wenn auch nur einen Spaltbreit. Vielleicht ist das aber auch Zufall, vielleicht hat der Wind sie wieder aufgeweht.
Sollte ich zu diesem Kleid die Haare offen tragen? Vielleicht alle zu einer Seite kämmen? Ich bin mir nicht sicher, aber Tante Bette wird es mir sagen können. Vor
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