Aurum & Argentum (German Edition)
triumphierend aufrecht mit erhobenen Vordergliedmaßen und genau in dieser Position verharrte er auch. Die Sekunden verstrichen, ohne dass er seine gebogenen Klauen der gestellten Beute ins Fleisch schlug.
Endlich schaltete sich Leons Gehirn wieder ein, vorsichtig hob er die Augenlider einen Spalt breit. Sein Angreifer stand noch immer da wie zur Marmorstatue erstarrt, nun aber fasste auch er sich scheinbar wieder, ließ sich auf alle Viere hinab und trat einen Schritt zurück. Ein Pfeil bohrte sich in den Boden, dort wo der Greif eben noch gestanden hatte.
„ Mist! Wieder daneben!“
Der Besen landete dicht neben Leon und die beiden Fliegerasse kamen zu ihm gewetzt. Flux hielt noch immer den Bogen gespannt, traute sich aber im Moment nicht, einen weiteren Pfeil abzufeuern. Wenn er wieder daneben traf, würde er den Greifvogel nur noch wütender machen. Auch Calep unternahm erst einmal keinen voreiligen Schritt, sondern drohte dem Gegner nur mit erhobenem Besen. Der Greif wiederum tat erneut etwas Absurdes: er trat noch einen Schritt zurück, ließ sein Hinterteil in den Farn plumpsen, zog blitzschnell mit dem rechten Vorderfuß etwas unter den Federn seines Halses hervor und setzte es sich auf den Schnabel. Den Knaben verschlug es die Worte.
„ Nun“, räusperte sich der Greif mit hörbarer Verlegenheit, während er seine Brille zurechtrückte, „mein Fehler.“
Atemloses Schweigen folgte. Ein paar Insekten brummten vorbei, eine Taube segelte über sie hinweg und ganz weit in der Ferne plätscherte der Wasserfall. Die Sekunden zogen sich dahin, wurden zu Minuten. Niemand rührte einen Muskel, erst der Greif erhob wieder das Wort. „Das Ganze ist ein großes Missverständnis“, entschuldigte er sich, „das hört sich jetzt sicher ein wenig merkwürdig an, aber nun ja … ich bin ein wenig kurzsichtig.“
Drei Augenpaare waren wie gebannt auf ihn gerichtet, nur Beelzebub gähnte gelangweilt.
„ Von oben herab, aus gewisser Höhe, nun ja, da dachte ich eben, einen Reiter hoch zu Pferde zu erspähen. Es dürfte ja kein Geheimnis sein, das Greifen Jäger sind, und da ich schon ziemlich lange nichts mehr verzehrt habe, ließ ich mich bedauerlicherweise von meinen Instinkten mitreißen.“ Er legte eine kurze Pause ein und sah bereuend in die Runde, die Jungs brachten noch immer kein Wort über die Lippen, so verdutzt waren sie. Der Greif rückte erneut seine Sehhilfe zurecht. „Ich kann gar nicht genug beteuern, wie sehr ich dieses Missgeschick bedauere. Ich weiß, ihr werdet sagen: das ist doch ganz normal für so eine Bestie. Bestimmt habt ihr im Unterricht oder von euren Eltern gelernt, dass Greifen stets Pferd und Reiter entführen – der Zweibeiner ist dann die kleine Vorspeise, um den Appetit anzuregen, und das Pferd das Hauptgericht. Doch schon meine Mutter hat mich stets ermahnt, dass es nur Unglück bringt, einen Hominiden zu fressen. Denn Zweibeiner sind sehr empfindlich und rächen sich fürchterlich für jedes gefressene Sippenmitglied. Pferde sind da ganz anders, wenn man eines von ihnen verschleppt, freuen sich die anderen, mit dem Leben davon zu kommen. Sie würden nie auf die Idee kommen, dem Jäger nachzustellen, um ihn dann zu erlegen und ausgestopft als Trophäe aufbewahren. Dafür werden sie aber in Zukunft noch wachsamer sein und wehrlos sind sie keinesfalls. Sie können kräftig ausscheuen und mir ist in meinem Leben schon mehr als eine Rippe gebrochen worden.“ Als er merkte, dass er von Thema abkam, unterbrach er sich selbst. „Was ich mit all dem Geschwafel sagen will, ist folgendes: bei allen Göttern und was heilig ist, schwöre ich euch, dass ich noch nie in meinem Leben einen Hominiden auch nur angeknabbert habe und ebenso wenig einen Tier-Zweibeiner. Ich habe mich dem Kentaur gegenüber reichlich daneben benommen. Würdet ihr edlen Knaben mir dennoch verzeihen?“
Die Reaktionen darauf waren sehr geteilt, während Leon großmütig nickte, traute Flux seinen Ohren kaum und Calep fasste sich an den Kopf, was war das nur für ein verrückter Tag? Erst dieses memmenhafte Shadhahvar, das sich für den Herrscher über Leben und Tod hielt, und nun auch noch ein intellektueller Greif mit Brille! Was kam wohl als nächstes? Ein Polka tanzendes Sumpfungeheuer?
Zutiefst dankbar neigte der Greif sein Haupt. Er war allemal größer als ein Tiger, aber dennoch hatte man den Eindruck, dass er noch längst nicht ausgewachsen war. Seine Schulterhöhe lag bei ungefähr ein-meter-achtzig,
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