Kapital: Roman (German Edition)
PROLOG
Im Morgengrauen eines Spätsommertags ging ein Mann in einem Kapuzenshirt langsam und leise durch eine ganz normal wirkende Straße im Süden Londons. Er war mit irgendetwas beschäftigt, aber ein zufälliger Beobachter hätte nur schwer erraten können, womit. Manchmal ging er näher an eines der Häuser heran, manchmal trat er ein paar Schritte zurück. Mal schaute er nach unten, dann wieder nach oben. Besagter zufälliger Beobachter hätte aus der Nähe allerdings erkennen können, dass der junge Mann eine kleine Videokamera in der Hand hielt. Aber es gab keinen solchen Beobachter. Niemand sah den jungen Mann, die Straße war leer. Sogar die Frühaufsteher schliefen noch. Es war auch nicht einer der Tage, an denen die Milch geliefert wurde oder die Müllabfuhr kam. Vielleicht wusste der junge Mann das und es war kein Zufall, dass er die Häuser genau zu diesem Zeitpunkt filmte.
Der Name der Straße war Pepys Road. Sie sah nicht anders aus als viele andere Straßen in diesem Teil Londons. Die meisten Häuser in ihr waren zur gleichen Zeit entstanden. Ein Immobilienunternehmer hatte sie während des Aufschwungs gebaut, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Abschaffung der Backsteinsteuer folgte. Der Architekt aus Cornwall und die irischen Bauarbeiter, die damals von der Firma beauftragt worden waren, brauchten zum Errichten der Häuser ungefähr achtzehn Monate. Jedes von ihnen hatte drei Stockwerke und unterschied sich auf bestimmte Weise von seinen Nachbarn, denn der Architekt und seine Bauarbeiter hatten winzige Variationen eingefügt. Bei manchen war es die Form der Fenster oder der Schornsteine, bei anderen betraf es die Details im Mauerwerk. In einem architektonischen Reiseführer der Gegend heißt es: »Sobald man dieses Phänomen bemerkt hat, beginnt man unweigerlich, die Gebäudenäher zu betrachten und nach den kleinen Unterschieden zu suchen.« Vier von den Häusern in der Straße waren doppelt so breit wie die anderen und boten dementsprechend mehr Platz. Und weil Platz immer unbezahlbarer wurde, waren diese Häuser ungefähr dreimal so viel wert wie ihre kleineren Nachbarn. Es waren jene größeren, teureren Häuser, an denen der junge Mann mit der Kamera besonderes Interesse zu haben schien.
Die Gebäude in der Pepys Road waren für eine ganz bestimmte Klientel errichtet worden: Familien aus der unteren Mittelschicht, denen es nichts ausmachte, in einem weniger modischen Stadtteil zu wohnen, wenn sie dafür ihr eigenes Reihenhaus besitzen konnten – groß genug, um auch Dienstboten darin unterzubringen. In den ersten Jahren nach ihrer Fertigstellung wohnten dort nicht etwa Rechtsanwälte, Notare oder Doktoren, sondern deren Angestellte: angesehene, ehrgeizige Leute, die nicht mehr jeden Penny einzeln umdrehen mussten. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte vollzog sich in der Straße ein fortwährender demographischer Wandel, sowohl was das Alter der Einwohner als auch was deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht betraf. Es hing ganz davon ab, wie beliebt sie gerade bei aufstrebenden jungen Familien war oder welche Anziehungskraft die Gegend zur jeweiligen Zeit ausübte. Im Zweiten Weltkrieg wurde auch dieser Teil der Stadt Opfer von Bombardierungen, aber die Pepys Road blieb unversehrt, bis 1944 eine V2-Rakete einschlug und zwei Häuser in der Mitte der Straße zerstörte. Jahrelang blieb die Lücke offen, wie ein Paar fehlender Schneidezähne, bis schließlich in den fünfziger Jahren neue Häuser gebaut wurden, die mit ihren Balkonen und Terrassentüren aus Glas inmitten all der viktorianischen Architektur sehr seltsam wirkten. Damals waren vier Häuser der Straße von Familien bewohnt, die erst vor kurzem aus der Karibik gekommen waren; die Väter arbeiteten alle für London Transport. Ein kleines, unregelmäßiges, grasbewachsenes Grundstück am Ende der Straße, das seit der Zerstörung des vorherigen Gebäudes im Zweiten Weltkrieg leergestanden hatte, wurde 1960 zubetoniert, und es entstand ein zweigeschossiger Eckladen mit zwei Räumen auf jeder Etage.
Es wäre schwierig zu sagen, wann genau die Pepys Road auf der Preisleiter nach oben zu klettern begann. Die übliche Antwort wäre vielleicht, dass es zur gleichen Zeit geschah, als in ganz Großbritannien der Lebensstandard zu steigen begann. Mit dem Beginn der Thatcher-Jahre befreite sich die Wirtschaft aus dem unansehnlichen Kokon, in dem sie während der späten Siebziger eingesponnen war, und verwandelte
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