Aus der Hölle zurück
Kilometer vor Laufen entdeckten wir am Rande eines kleinen Wäldchens eine Gruppe unserer Mithäftlinge in gestreifter Kluft. Wir hielten an. Es waren hauptsächlich polnische Juden aus unserem Kommando sowie einige Russen. Sie standen rings um einen Baum, an dessen Ast – mit dem Kopf nach unten – irgendein Mensch hing. Sie fragten uns, ob wir ihn erkannten.
Es war ein SS -Scharführer, der Zugführer jener Abteilung unseres Wachkommandos, die auf dem Marsch am Ende der Kolonne alle schwachen, kranken und vor Entkräftung niedersinkenden Häftlinge erschossen hatte. So manches Mal hatte der Scharführer den wehrlos daliegenden Menschen selbst den Rest gegeben. Von unseren Lagerkameraden erfuhren wir, daß sie seit drei Tagen »Sport« mit ihm trieben. Im Laufe des Tages befahlen sie ihm, zu laufen und dabei Kniebeugen zu machen. Zu »Mittag« bekam er 30 Stockhiebe. Nachts gaben sie ihm seinen eigenen Urin zu trinken und gruben ihn bis zum Hals in die Erde ein – in einer Grube, die er selbst als sein Grab hatte schaufeln müssen. Morgens zogen sie ihn heraus und hingen ihn zum »Abkühlen« an den Baum.
Ich hatte im Lager entsetzliche Dinge gesehen, und ich hatte geglaubt, ich sei immun dagegen. Doch als ich diese Überreste eines menschlichen Wesens erblickte, bekam ich eine Gänsehaut. Er hatte am ganzen Leibe keinen einzigen weißen, unversehrten Fetzen Haut. Er war überall blutunterlaufen und blutverkrustet durch die Schläge und den »Sport«. Zbyszek richtete automatisch den Lauf der Maschinenpistole auf ihn.
Doch in diesem Augenblick warfen sich fünf ehemalige Häftlinge auf Zbyszek und verhinderten, daß er abdrückte. Einer der jungen Juden rief mit flammenden Blicken und wilder Verbissenheit: »Hör auf, Zbyszek! Hier ist kein Mitleid am Platz! Dieser elende Hund hat zwei Tage vor der Befreiung meinen alten Vater umgebracht. Meine Mutter und meine Schwester haben die Halunken in Auschwitz verbrannt. Dieser da muß für all das büßen. Das ist kein Mensch, das ist ein Tier! Er spuckte vor dem SS -Mann aus und versperrte Zbyszek unnachgiebig den Schußweg. Die Leidenschaft, mit der er sprach, war nur allzu verständlich. Er mußte quälen, um seine Rache zu stillen. Ja, das war dieselbe Aufwallung, der ich erlegen war, als Henek die beiden SS -Leute getötet hatte. Das konnte stärker sein als der menschliche Wille. Mit hängenden Köpfen kehrten wir zu unserem Motorrad zurück.
Und wiederum peinigten mich unabweisliche Überlegungen. Mußten wir deshalb, weil man uns gepeinigt und geschlagen hatte, mußten wir deshalb dasselbe tun? Mußten wir deshalb, weil wir mit dem Leben davongekommen waren, einem andern das Leben nehmen? Wenn er es verdient hatte, ja. Aber dafür gab es Gerichte. Dieser Scharführer hatte bestimmt den Tod verdient, und vor jedem Gericht wäre sein Prozeß bestimmt mit einer Verurteilung ausgegangen. Aber mußte er gequält werden? Mußte man sich an seinen Leiden weiden? Seine Rache an ihm auslassen? Auge um Auge, Zahn um Zahn?
All diese chaotischen Gedanken brodelten in meinem Kopfe, als wir nach Laufen kamen. In der Kommandantur suchten und fanden wir denselben Offizier, den amerikanischen Hauptmann, der als erster in Muttering eingerückt war. Wir erfuhren, daß man für ehemalige KZ - Häftlinge ein spezielles Durchgangslager eingerichtet habe.
O Nein! Einstimmig beschlossen wir, nicht in diesem Lager zu wohnen. Wir hatten genug von allen Lagern. Wir wollten frei sein, ungebunden durch irgendwelche Verpflichtungen, Lagerordnungen oder Vorschriften. Wir wollten die Freiheit auskosten!
Der Hauptmann hörte uns geduldig zu. Er betrachtete uns aufmerksam und meinte dann: »Mein Vater war Pole. Er ist gestorben. Ich versuche, euch zu verstehen. Deshalb bekommt ihr Privatunterkünfte zugeteilt. Aber wenn ich euch so ansehe, dann muß ich euch doch raten, daß ihr euch in unserem Lazarett meldet. Man kann nie wissen, welche Krankheiten ihr mit euch herumschleppt. Das ist ein wohlgemeinter Rat. Nehmt ihr ihn an?« Wir dankten ihm herzlich und begaben uns endlich in eine richtige Wohnung – mit Bad, mit einem bequemen Bett und einem Radio.
Gegen Mittag wurde im Rundfunk mitgeteilt, daß Deutschland am 8 . Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatte.
Endlich war der Krieg zu Ende. Der Eindruck war einfach überwältigend, die Aufregung war zu groß. Rührung und Erregung können töten, ein Übermaß davon kann zerstörerisch wirken. Die im Lager
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