Aus der Hölle zurück
»Ein ganz neues Leben«
Vorwort von Hans Simon-Pelanda
Den Tag ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft im Konzentrationslager oder die ans Wunderbare grenzende Genesung von einer tödlichen Krankheit begingen und begehen viele KZ -Häftlinge als ihren zweiten oder sogar eigentlichen Geburtstag. Aber welchen Tag sollte der zweiundzwanzigjährige, auf etwas über dreißig Kilo abgemagerte Tadeusz Sobolewicz ab 1945 feiern? Den Weihnachtstag 1941 , als er aus der über eine Woche andauernden Bewußtlosigkeit und dem Fieberwahn des Flecktyphus erwachte, den Tag des Feuers im Außenlager Mülsen, an dem er mit verbranntem Rücken und mit im Todeskampf auf immer verbogenen Fingern zu den Toten gelegt werden sollte? Den Tag Ende April 1945 , als er vom Todesmarsch des Außenkommandos Regensburg fliehen konnte, oder den 1 . Mai im oberbayerischen Muttering, nahe der österreichischen Grenze an der Salzach, als er endlich das Versteck in der Scheune mutiger Bauersleute verlassen und seine Ration Milch im Schutz amerikanischer Panzer nun bei Tage abholen konnte – und doch schon ahnte, daß er nie wieder so gesunden würde, wie für ein neues Leben notwendig? Vor und nach diesen Tagen gab es noch ähnliche, an denen er dem Tod genauso knapp entkommen war.
Heute noch schätzt er sich glücklich und dankt dem Schicksal, daß er zu den wenigen zählt, die ein paar Mal in letzter Minute gerettet werden konnten, zu jenen, die »aus der Hölle zurück« kamen. Und im gleichen Atemzug stockt seine Stimme: »An der Stelle eines der unzähligen Mordopfer hätte auch ich sein können, und einer von diesen könnte jetzt hier statt meiner aus dem Jenseits zurück sein!«
Aber wohin zurück?!
In seine Jugend, die er mit 17 Jahren gerade beginnen wollte und die 1941 endete, als die Gestapo den achtzehnjährigen Kurier der polnischen Untergrundarmee aufgriff? Wie viele Gleichaltrige konnte auch Tadeusz seine Jugend nicht nachholen: Für ihn hatte es »davor« keine gegeben und konnte es auch »danach« keine geben.
In seine Familie zurück? Den verehrten Vater sah er zuletzt eine Woche vor dessen Weg ins Gas von Auschwitz. Und daß die Mutter die Quälerei im KZ Ravensbrück seit 1941 überlebt haben könnte, wagt er nach den eigenen Erfahrungen auf seiner vierjährigen Odyssee durch die Vernichtungsmaschinerie der Lager nicht einmal zu hoffen.
Zurück in seine »Lager-Familie«, die ihn wider alle Logik am Leben erhielt, will er nicht. Soweit die Kameraden aus dem Lager noch am Leben sind, zerstreuen sie sich gerade, suchen »ihr Zurück«. Sie werden auch so immer miteinander verbunden bleiben, durch den Schmerz gemeinsamer Erinnerung, durch die Alpträume vom Grauen der Lagerzeit.
Wie sie alle will, nein muß, Tadeusz Sobolewicz ein »neues Leben« beginnen, manchmal sagt er heute: »Mein Leben beginnen.«
Aber dafür muß er alles vergessen und negieren. Den Schutz der Kameraden im Lager muß er verlassen, er will aber auch keinen neuen Schutz durch die amerikanischen Befreier oder UNRRA -Lager. Todkrank läuft er sogar vor dem Lazarett davon und läßt sich von den Amerikanern schließlich allein in einer Privatwohnung unterbringen. Nie wieder Lager! Weit weg vom Tod!
Und so bleibt er zunächst im Land der Täter, zieht von Laufen nach München, immer im Kampf gegen die schwächliche Gesundheit, aber auch gegen die ständige Erinnerung. Er nutzt seine Beziehungen und seine Stellung und arbeitet als Kurier zwischen der amerikanischen Zone und Polen. Über ein Jahr sucht er vergeblich nach seiner Mutter. Dann bei einer seiner Touren die erlösende, kaum noch erwartete Nachricht: Seine Mutter lebt, der jüngere Bruder ist zurück – auch für ihn gibt es ein »Zurück«. Ein letztes Mal wagt er den Weg über die immer dichteren Grenzen zwischen den Besatzungszonen, dann bleibt er in Polen.
Es scheint, daß er an sein früheres Leben anknüpfen kann, als er das Abitur nachholt und 1948 mit dem Philosophiestudium an der Universität von Poznan beginnt. Aber Philosophie! Fragen und Nachdenken nach dem »Woher?«, dem »Warum?«, nach »Sinn«, wie soll er das ertragen? Die »philosophischen Kollegs«, die ihm im KZ Buchenwald so wichtig waren und ihn an ein weiteres Leben glauben ließen, flieht er nun. Aber ihn hatten im Lager auch die künstlerischen Darbietungen anderer Gefangener, der Applaus, den sie dafür erhielten, sehr angesprochen. Gerne läßt er sich nun von Kommilitonen mitnehmen in ein anderes Leben, ins
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