Aus Liebe zum Wahnsinn
einen knallroten Gürtel aus Klettverschluss, der aussieht wie eine Bürgermeisterschärpe. In München haben wir Klettstreifen auf verschiedenen Höhen, je nach Altersfreigabe. Ich rupfe einfach ab, was ich brauche. Schluss mit Kramen. Ruckzuck.
»Hast du eigentlich gar kein schlechtes Gewissen?«, fragt die Frau über Eck, während sie gerade Vanilla Caramel Fudge aus dem Topf schält. »Das ist doch unfair. Deine Frau so ganz allein zu lassen.«
Ich mag jetzt kein Eis. Und auch keine Rhabarberfußmatte. Lieber Wein.
»Schlechtes Gewissen«? Das ist doch selbst ein Arschloch. Das schlechte Gewissen ist nicht mehr als eine Art Notfallplan, wenn alles falsch gelaufen ist. Wenn die Moral beleidigt in der Ecke hockt und man die Seele auf Autopilot stellt. Wer aufgegeben hat, aus eigenem Antrieb zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, der kann das Ruder dem schlechten Gewissen überlassen. Oder sich darin suhlen und dann – ach, Gottchen – mit dem ach so schlechten Gewissen auch noch leben müssen. Natürlich: Niemand ist gefeit. Trotzdem ärgere ich mich jedes Mal, wenn ich etwas aus schlechtem Gewissen tue. Und ich ärgere mich noch mehr, wenn mir jemand einen Gefallen tut, nicht, weil ich es wert bin, nicht weil unsere Freundschaft oder unsere Liebe es wert ist, sondern aus schlechtem Gewissen. Ich will keine Beziehung, in der Miteinander und Rücksicht vom Diktat des schlechten Gewissens bestimmt werden. Fuck off, schlechtes Gewissen!
Und »unfair«? Ja, unfair ist es. Aber das ist doch alles. Da brauche ich gar nicht wegzugehen. Wenn Viola mit sechs Kindern beim Bäcker ist und eins heult, weil es keinen Krapfen bekommt, dann heißt es: »Die hat ihre Kinder nicht im Griff. Selber schuld. Warum hat sie auch so viele? Besser aufpassen.«
Wenn ich mit denselben sechs Kindern bei demselben Bäcker stehe und irgendeines der Kinder seine Butterbrezel an die Glasvitrine schmiert, weil ich gerade ein anderes davon abhalte, die Marmeladenauslage abzuräumen, dann heißt es: »Wirklich toll, wie der sich bemüht. Endlich mal ein Vater, der sich engagiert, der sich einbringt. – Und das sind wirklich alles Ihre Kinder? Ich finde das ja super.«
Und »allein«? Ja, natürlich. Auch da hat sie recht. Allein. Und nie Pause. Allein mit sechs Kindern ins Schwimmbad, zum Zahnarzt, in die Schultheaterpremiere. Immer on. Immer auf dem Grat des irgendwie gerade noch Zumutbaren. Für drei Wochen Italienurlaub packen?
»Das müsstest du allein machen. Ich komme dann direkt aus Hamburg, mit dem Flieger: Handgepäck.«
Alles, was gemacht werden muss, muss sie organisieren. Und niemand ist da, der etwas einfach so macht, nebenbei. »Das habe ich schon mal vorbereitet«, gibt es eben nur in Kochshows. Es ist nicht mal einer da, den man anraunzen kann, wenn mal was schiefläuft.
Unsere Familie funktioniert in Systemen, die keine Fehler vertragen, die auf Anschlag geplant sind, ohne Puffer. Brenzlig wird es, wenn die Routine aus dem Tritt kommt, wenn der Alltag nicht pariert. Das können dann ganz kleine Sachen sein: ein Kind, das mit Scharlach im Bett liegt; zwei Kindergeburtstagsfeste, die zur gleichen Uhrzeit enden; ein Wocheneinkauf vorm kaputten Aufzug; allein mit sechs Kindern im Nachmittagschaos, und das Telefon klingelt.
»Mach dir bloß keine Umstände«, sagt die Urgroßmutter. »Ich bring Kuchen mit. Bis gleich. Ich freue mich.«
Und da gibt es die anderen Situationen, in denen das Alleinsein einem hochkommt wie Magensäure.
Wir hatten gerade mal drei Kinder. U-Bahn-Haltestelle Innsbrucker Ring. Vorne zwei Mädchen, vier und zweieinhalb Jahre alt, händehaltend; dahinter der Kinderwagen mit noch einem Mädchen, dahinter Viola.
»Ihr setzt euch bitte sofort hin!«, ruft Viola nach vorne, während sie die Hinterräder des Kinderwagens in die U-Bahn bugsiert. Genau in dem Moment schließen die Türen und schlagen ihr gegen die Handgelenke. Reflexartig zieht Viola ihre Arme zurück, lässt den Kinderwagen los. Die Türen schließen sich. Drinnen: drei Kinder, zwei sitzend, eins im Kinderwagen. Draußen Viola, die sich ganz sicher ist, dass die Tür-Automatik gleich wieder aufgeht. Das ist doch heutzutage alles videoüberwacht. Sie drückt, sie winkt in Richtung Fahrerhäuschen, fast gelassen.
Das Nächste, was sie hört, ist dieser komisch hohe Ton, den die anfahrende U-Bahn verursacht. Sie trommelt gegen die abfahrende Bahn. Sie steht da. Allein.
Und als ob das alles nicht genug wäre, gibt es da ja
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