Aus Nebel geboren
Möglichkeit umsah, auf die Dächer der Häuser zu gelangen. Er steckte sein Schwert in die Scheide auf seinem Rücken und rannte geduckt die Gasse entlang. Ein Fuhrwerk an einer Mauer war genau das, wonach er gesucht hatte. Er stieg auf den Karren und schwang sich von dort nach oben. So schnell es dieser schmale Pfad auf dem Stadtmauerring in luftiger Höhe zuließ, schlich er über Tore und Plätze hinweg, und betete, kein loser Stein möge ihm zum Verhängnis werden.
Unter ihm tobte der Kampf, und er musste mit ansehen, wie gnadenlos das päpstliche Heer vorging. Die Straßen Jerusalems waren mit Blut getränkt. Julien erreichte ein Dach und erklomm über eine Fensterbalustrade ein noch höheres Gebäude. Die Bauweise der flachen Dächer kam ihm dabei sehr gelegen. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinab, als er sich unter Schmerzen über die Brüstung zog. Seine Wunde brannte wie Feuer, und jede Bewegung kostete ihn Überwindung.
Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er das ganze Ausmaß erkennen. Die Banner mit dem roten Kreuz, die Zeichen ihrer heiligen Mission, wehten im nächtlichen Wind. Sie waren rußig, blutbeschmiert und ragten wie teuflische Hörner aus den tosenden Massen des Massakers hervor.
Entsetzt trat er an die Brüstung, als etwas haarscharf an seinem Kopf vorbeizischte. Es war weniger eine Reaktion als ein Impuls, der ihn sich ducken und nach seinem Schwert greifen ließ. Auf dem Dach gegenüber kniete eine Gestalt, und Julien sah, wie diese die Sehne eines Bogens erneut spannte. Der Pfeil surrte, verfehlte ihn diesmal aber ein ganzes Stück. Schnell trat er einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Angriff war die beste Verteidigung.
Der Schmerz fraß sich wie der Biss einer giftigen Schlange durch seinen Leib, als er hart auf dem Dach aufschlug. Er rollte sich ab und kam keuchend auf die Beine. Aus der Nähe betrachtet war sein Gegner nur wenig beeindruckend, denn Julien überragte den Kämpfer um gut zwei Köpfe, aber dieser hatte seinen gespannten Bogen auf ihn angelegt. Julien macht einen Schritt zur Seite. Der Pfeil im Anschlag folgte seiner Bewegung.
Das Herz pochte in seiner Brust. Einem Pfeil auf solch kurze Distanz auszuweichen, war unmöglich. Seine Augen brannten. Verlangten, dass er blinzelte, aber Julien wusste, dass dies sein Ende wäre. Stattdessen fixierte er den Gegner mit seinem Blick. Versuchte, dessen nächste Bewegung zu erahnen.
„Ihr kämpft für eine Lüge, Soldat!“, rief der Bogenschütze, und Julien zuckte zusammen. Eine Frau? Stand er einer Frau gegenüber? Trotz des fremdartigen Klangs der Worte war er sicher, die Stimme einer Frau vernommen zu haben.
„Du sprichst unsere Sprache?“, fragte er und wich einen Schritt zurück. Er wollte keine Frau angreifen, sich aber auch nicht von einer töten lassen.
Sie nickte. Zumindest glaubte Julien das, denn ein dunkler Umhang verbarg nahezu die ganze Gestalt. Nur ihre dunkel glänzenden Augen und der Arm, der den Bogen spannte, schauten hervor. Lederbänder, die um die Armmuskeln geschlungen waren, um das Zittern beim Spannen des Bogens zu verhindern, zeichneten sich von bronzefarbener Haut ab.
„Wie könnte ich euch sonst davon überzeugen, dass euer Gott eine Lüge ist? Dass es Beweise gibt, dass ihr Christen mit eurem Glauben einer riesigen Lüge aufsitzt?“
Julien straffte die Schultern. Elende Heiden mit ihrem gotteslästerlichen Geschwätz!
„Ergib dich, Weib, dann wirst du diese Nacht überleben!“, forderte er, obwohl er sich in der schlechteren Position befand. Allerdings war Julien davon überzeugt, dass ihm eine Frau nicht wirklich gefährlich werden konnte.
Sie lachte und schüttelte den Kopf.
„Niemals! Die Wahrheit wird hier – heute Nacht – nicht sterben, selbst wenn ich es tue! Geh, du tapferer Krieger! Geh zu deinen Männern und töte für die größte Lüge der Menschheit! Töte mich, wenn dich das befriedigt, aber die Wahrheit wirst du dadurch nicht töten.“
Sie lockerte den Griff um den Bogen, drehte sich um und sprang mit einem Satz vom Dach.
Julien folgte ihr an die Brüstung und sah ihr nach.
Sie hatte sich rückwärts durch eines der Sonnendächer, die in dicken Stoffbahnen über manche Höfe gespannt waren, fallen lassen. Zwar war der Stoff gerissen, hatte aber ihren Fall soweit gebremst, dass sie nun wie ein Geist mit der Nacht verschmolz.
Auf diesem Weg kam Julien ihr nicht nach, denn das Dach würde ihn nicht mehr halten. Wütend fuhr er sich durchs Haar und sah
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