Auserkoren
Vaters Sonntagsschuhen auf dem Fußboden ist zu hören, als er geht, um die Tür zu öffnen. Es ist heiß geworden im Wohnwagen, weil so viele Menschen da sind.
»Aua«, sagt Laura.
»Entschuldigung«, sage ich, denn ich habe ihre Hand viel zu fest gedrückt. Ich lasse sie los.
Bitte, bitte, Jesus. Ich will fromm sein. Ich will gut sein, wenn du meinen Vater auserwählst. Ich werde niemals wieder daran denken, jemanden zu töten, das schwöre ich. Über das Bücherlesen kann ich nichts mehr sagen, dazu fehlt mir die Zeit, und an Joshua kann ich nur noch kurz denken.
Vater öffnet die Tür.
»Prophet Childs«, sagt er. »Bruder Fields. Bruder Stephens. Seid willkommen. Ach!« Vaters Stimme ist ein einziges Lächeln. »Hyrum, ich habe dich fast übersehen dort draußen. Tritt ein.«
Die vier Männer kommen herein. Wir bieten unserem Propheten den bequemsten Stuhl an und er setzt sich. Mutter Victoria setzt sich auf den Boden zu seinen Füßen. Die anderen Brüder, auch mein Onkel, nehmen auf den Küchenstühlen Platz.
»Bruder Carlson«, beginnt Prophet Childs. Er ist gertenschlank und groß gewachsen, seine Augen sind dunkel, fast schwarz. Seine braunen Haare sind streng zurückgekämmt, man sieht noch die Spuren des Kamms. Er lächelt uns an und hebt die Hand. »Schau auf diese Familie. Sieh, was Gott dir geschenkt hat, Bruder Carlson.«
Mein Vater nickt strahlend.
»Eine wunderbare Familie«, fährt der Prophet fort. »Aus deinen ältesten Söhnen sind ehrbare junge Männer geworden.« Er nickt. »Und die großen Mädchen …« Er hält inne. Er betrachtet Emily. Unsere wunderbare Emily.
Ich versuche, sie so zu sehen, wie der Prophet sie sieht. Ich sehe ihr offenes Gesicht, ihre Mandelaugen, ihr strahlendes Lächeln. Sie wirft ihm einen solch liebevollen Blick zu, dass er sie ebenfalls lieben muss. Aber ich weiß, er liebt sie nicht. Ich habe gehört, wie er das gesagt hat. Ich habe gehört, wie er sie verflucht hat.
Und ich weiß, was sie mit denen anstellen, die nicht ganz gesund sind.
»Sünder sind krank. Sünder sind verkrüppelt. Sünder sind Gott nicht wohlgefällig, sie sind verdammt«, hat der Prophet in einer der Versammlungen gesagt.
Einige der Gemeindemitglieder jubeln ihm zu, andere singen »Amen «. Einige sind still. Unsere Familie ist still.
»Die Kranken werden nicht zu Gott eingehen«, spricht er weiter. »Diejenigen, denen es hier fehlt«, er tippt dabei an seinen Kopf, »oder hier«, er tippt an seine Augen, »oder hier«, er tippt an sein Herz, »können das Himmelreich nicht erlangen.«
Ich weiß, dass es so weit kommen wird. Das alles gehört zur Neuen Reinigung, die Mütter reden nicht viel davon. Die Neue Reinigung gehört zu den Dingen, über die man hier nicht spricht.
Schwester Janie Abbott hatte zwei kleine Jungen. Winzlinge. Sie wogen nicht mehr als ein, zwei Pfund. Einer starb nach einer Stunde. Aber der andere überlebte wie Emily.
Prophet Childs kam zu ihrem Wohnwagen. Schwester Janie war gerade mal dreizehn Jahre alt. Sie war die erste
Frau ihres Mannes, der sechs Jahre älter war. Sie weinte lange, als man ihr sagte, das kranke Kind dürfe nicht weiterleben. Sie weinte und klammerte sich so lange an das kleine Kind, wie sie nur konnte.
Dann haben sie es beiseitegeschafft.
Ich weiß nicht, wie, aber ich weiß genau, dass sie es taten. Ich habe gelauscht, als Mutter Victoria es Mutter Sarah und Mutter Claire erzählt hat. Sie hat den Müttern im Flüsterton die ganze Geschichte erzählt, während ich nachts im Dunkeln stand, mucksmäuschenstill, damit niemand merkte, dass ich da war.
»Sie haben das zu früh geborene Kind getötet«, sagte Mutter Victoria. Etwas Unbestimmtes schwang in ihrer Stimme mit. Angst? Ich wartete in der Dunkelheit, rührte mich nicht, ich bekam eine Gänsehaut von dem, was ich da hörte. »Danken wir Gott, danken wir Gott, dass ihm diese Offenbarung erst kam, nachdem Emily auf die Welt gekommen ist. Der Vater des Propheten war ganz anders.«
»Da hast du recht«, stimmte ihr Mutter Sarah zu.
Und auch Mutter Claire sagte leise: »Wir haben einen neuen Propheten. Einen neuen Führer. Das Leben war schon früher schwer. Aber jetzt ist es noch schwerer.« Alle schwiegen, dann sagten sie: »Gottes Wege sind unergründlich.«
Prophet Childs wurde nach dem Tod seines Vaters vor sieben Jahren unser Prophet. Die Würde ging auf ihn über. Er erbte die Macht. So hat es mein Vater uns erklärt.
Als Prophet Childs’ Vater gestorben war,
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