Auserkoren
Samantha. Sie nippt an einer Tasse heißer Schokolade mit Sahnehäubchen. »Wir müssen dir Kleider kaufen.«
»Kleider?«
» Das kannst du hier jedenfalls nicht anziehen«, sagt Madison. »Du brauchst etwas anderes. Etwas, was nicht so altmodisch ist.«
Ich blicke nicht von der blaugrünen Tischplatte auf. Ich sage nichts, aber ich denke. Ich denke: Aber garantiert nichts, wo man den Büstenhalter sieht, wie bei einigen Leuten, die hier sitzen.
Die Kellnerin bringt uns das Essen. Wir alle haben das Gleiche bestellt - Crêpes mit Erdbeerfüllung, Kartoffelpuffer und eine große Tasse voll heißer Schokolade. »Das wird dir schmecken«, hatte Madison gesagt.
Sie hat recht, aber ich will nicht, dass sie recht hat, wegen der abfälligen Bemerkung über meine Kleider. Aber die Schlagsahne und die Erdbeeren sind so gut, dass ich beinahe wieder zu weinen anfange. Meiner Mutter hätte es geschmeckt.
»Und dann müssen wir natürlich auch an die Schule denken, Kyra«, sagt Samantha.
»Du bist so alt wie ich«, sagt Madison. Sie langt herzhaft zu. Dabei bin ich mir sicher, dass für sie das Vergnügen längst nicht so groß ist wie für mich. »Dann wären wir ja zusammen. In der achten Klasse.«
»Denk mal darüber nach«, sagt Samantha.
Ich esse schweigend. Und dann sage ich: »Ich würde gerne Klavier spielen.«
»Jetzt gleich?«, fragt Madison.
Samantha nickt. »Wir haben eins zu Hause. Im Wohnzimmer. Ich zeige es dir morgen. Es ist nichts Besonderes. Aber es ist gestimmt.«
»Okay. Und was ist mit dem Bücherwagen?« Für einen Augenblick ist Patrick wieder da. Er grinst mich an und gibt mir den Roman, den ich entleihen möchte. Er zeigt mir das neueste Buch, das er für mich zurückgelegt hat.
»Einen Bücherwagen?«, fragt Madison, und Samantha sagt: »Wir haben eine große Bibliothek in der Stadt.«
Mein Hals ist zugeschnürt, wegen der Crêpes und wegen der Erinnerung an Patrick.
»Eine Bibliothek. Das ist gut«, sage ich leise.
Spät nachts liege ich in meinem neuen Bett. Mein Bauch spannt, so viel habe ich gegessen.
»Wir sind froh, dass du hier bist, Kyra«, sagt Samantha. »Du kannst bei uns wohnen, solange du willst. Gute Nacht.« Sie geht und schließt die Tür hinter sich. Ich höre, wie sie Madison Gute Nacht sagt. Sie unterhalten sich ein paar Minuten. Reden sie über mich?
Ihr Murmeln erinnert mich an zu Hause. Ich denke an meine Familie. Ob sie mich wohl alle vermissen? Ob sie mich wohl zurückhaben wollen? Will ich denn nach Hause zurück?
Ja! Ja! Ich will zurück nach Hause!
Es klopft an der Tür.
»Was gibt’s?« Ich setze mich auf. Das neue Nachthemd, das Samantha unter einem ganzen Haufen für mich hervorgezogen hat, kratzt im Nacken.
Sie steckt den Kopf ins Zimmer. »Darf ich reinkommen, Kyra?« Ein mattes Licht, das durch den Türspalt scheint, umgibt sie.
Ich nicke, dann sage ich: »Ja.«
Sie setzt sich auf meine Bettkante. Jetzt fällt das Licht hell und breit in mein Zimmer. Plötzlich überfällt mich der Kummer und drückt mich nieder. »Es wird nicht leicht für dich werden. Bestimmt nicht, Kyra. Aber …« Sie holt Luft, verschränkt die Hände. »Aber es wird sich lohnen. Auf lange Sicht.«
Ich bin unfähig, mich zu bewegen.
»Ich habe meine Familie wahnsinnig vermisst, damals als ich weggelaufen bin. Meinen Mann nicht. Auch nicht meine Mitehefrauen. Als ich geflohen bin, hatte ich Jessica bei mir, also war ich nicht ganz allein.«
Nicht so allein wie ich, denke ich.
»Aber wenn du nicht aufgibst, dann wird es dir wieder besser gehen. Das wollte ich dir nur sagen.«
»Okay«, sage ich leise, ich bin nicht einmal sicher, ob sie es gehört hat.
Sie ist still, aber dann sagt sie: »Es hat noch nie jemand
länger als einen Monat bei mir gewohnt, aber das kann sich ja ändern, Kyra. Wenn du es willst.«
»Vielleicht«, antworte ich.
Die Rollende Bibliothek von Ironton fährt die Straße entlang. Ich sitze neben Patrick, ein Stoß Bücher liegt auf meinem Schoß, darauf jongliere ich eine Schluckspecht-Tasse. Im hinteren Teil des Wagens ist Laura, sie sammelt die Bücher auf und stellt sie in die Regale zurück.
»Halte sie fest, Kyra«, sagt Patrick. »Halte sie gut fest. Die Bücher, die ich für dich ausgesucht habe, werden dir gefallen.«
Laura sagt: »Die Kader Gottes sind hinter uns her.«
Ich blicke aus dem Fenster. Draußen ist alles schwarz und weiß, so als hätte jemand alle Farbe aus der Welt gewaschen.
»Fahr schneller, Patrick,
Weitere Kostenlose Bücher