Auserwaehlt
sein Handy weg, als habe er auf diesen Moment gewartet. „Hast du
eigentlich mit Moni und Hubert noch Kontakt?“
„Hin und wieder.“ Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Es ist und bleibt
eine Tragödie.“
Draußen waren Stimmen zu hören. Norbert zögerte. Er sah sie an. Dann packte er
seine Sachen und wandte sich ebenfalls zum Gehen.
„Aber was ich fragen wollte“, hielt sie ihn zurück. „Fährst du nachher am
Bahnhof vorbei? Oder ist Erika ...“
„Ich kann dich mitnehmen, wenn du das meinst.“
„Danke“, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Kurz nach sechs geht mein
Zug.“
„Nach Berlin?“
Sie nickte. „Zu Charlotte.“
„Tja dann.“ Er trat auf der Stelle. „Sie hat das Kind bekommen, nicht?“
Sie bedeuteten ihm, zu warten, während sie in ihrer Handtasche nach etwas
suchte. Die Tasche hatte goldene Griffe, sie passte nicht zu Helga, fand Norbert.
Helga hielt ein Foto hoch. „Es ist ein Junge.“
„Goldig“, nickte er und stemmte seine Aktentasche auf den Tisch. Sein Gesicht
verzerrte sich vor Anstrengung, als seien Steine drin.
„Ich muss noch mal ins Büro“, sagte er, seine Lippen glänzten. „In einer halben
Stunde fahren wir, okay?“
„In einer halben Stunde“, bestätigte Helga, legte das Foto zurück und nahm
ihren Laptop heraus. „Ich warte solange hier.“
Wie früher, als sie noch regelmäßig auf der Bühne stand,
genoss Helga Kramer die Stille, nachdem alles vorbei war. Erst nach einem
Konzert wurde der Saal zu einem wahrhaft magischen Ort, zu einer Lichtung im
Mondschein, in der man nach wochenlanger Anspannung endlich zur Ruhe kam.
Helga Kramer klappte den Laptop auf. Sie war heute Morgen nicht mehr dazu
gekommen, ihre E-Mails abzurufen und würde das schnell nachholen, solange sie
noch Empfang hatte. Im ICE hatte sie noch nie eine Verbindung bekommen. Sie öffnete
das Programm, wartete und überflog dann die Absender der eingegangenen E-Mails:
Charlotte hatte ein neues Bild von dem Kleinen geschickt und Frau Klinger, die
Schulsekretärin, bat erneut um die Abschlussberichte. Sonst gab es nichts
Wichtiges, nur Werbung, ein paar Newsletter und eine Einladung.
Gedankenverloren klickte sie auf die Einladung zu dem Klavierkonzert in der
Philharmonie Berlin und löschte sie wieder, nachdem sie nicht richtig angezeigt
werden konnte.
Von draußen drangen Stimmen herein, sie wurden lauter und entfernten sich
wieder. Sie hörte die Putzfrau mit dem Staubsauger den Gang hoch und runter
fahren. Auf der Bühne stand noch immer der Notenständer, eingestellt auf ein
Kind mit einer Körpergröße von einem Meter sechsundvierzig.
Die Mutter von Greta Hauser war Italienerin und hatte in Mailand Gesang
studiert. Dann hatte sie einen Deutschen geheiratet, der in München Filmmusik
machte. Wie bei vielen frühreifen Kindern waren die Eltern also vom Fach, auch
Helgas Vater war ja Klavierlehrer gewesen, doch entgegen der landläufigen
Meinung wurde gerade diesen Kindern nichts geschenkt. Sie schloss das
E-Mail-Programm und suchte in ihren Dokumenten nach dem Lebenslauf des
Mädchens, der ihr als pdf-Dokument vorlag. Sie hatte ihn schon einmal gelesen,
doch jetzt, nachdem sie das Kind gehört hatte, besaß alles eine andere, tiefere
Bedeutung. Abermals las sie mit wachsendem Interesse, wie das Mädchen bereits
mit fünf Jahren –
Bitte nein, lass das nicht wahr sein. Die Stimme in ihrem Kopf klang fremd, doch Helga Kramer wusste, dass es
ihre eigene war. Regungslos starrte sie auf den Bildschirm. Alles war rot. Der
Bildschirm war rot geworden.
Nicht schon wieder. Rot. Es war dasselbe Rot und in der Mitte standen die Worte: „ICH BIN AUSERWÄHLT.“
Nein, nicht schon wieder. Ihr Atem ging schnell, zu schnell. Ihre Hand begann zu zittern. Sie
versuchte, den Laptopdeckel zu schließen, doch ihre Hand verkrampfte, sie
verdrehte sich wie eine abgestorbene Wurzel. Es ging nicht. Allein der Gedanke,
die rote Seite zu berühren, verursachte ihr Ekel. Helga Kramer sprang auf und
öffnete ein Fenster. Sie brauchte frische Luft.
Ein kleines Mädchen stand unten im Pausenhof und starrte sie an. Ihr Gesicht
war eine vor Wut verzerrte Fratze. Schnell wich Helga zurück. Ihr Herz raste.
Mit zittrigen Fingern suchte sie in ihrer Handtasche nach den Zigaretten für
den Notfall. Als sie wieder ans Fenster trat, war das Mädchen verschwunden.
Die Woche war anstrengend, atme ruhig und gleichmäßig, es kann dir nichts
passieren , redete sie sich zu.
Helga Kramer zündete sich eine
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