Ausländer
Chaussee, und der Himmel war von einem tiefen Blau. Der Duft von frisch gemähtem Gras mischte sich mit einem Hauch von Bleiche aus den Labors und dem Geruch von Formaldehyd, den eine frisch gelieferte Ladung Menschenmaterial verströmte, das an diesem Morgen aus einem der Lager eingetroffen war.
Den Großteil des Jahres über wimmelte es unter seinem Fenster von Studenten, die auf dem Weg zu Seminaren und Vorlesungen in den verschiedenen entlang der Ihnestraße verteilten Universitätsgebäuden waren. Aber jetzt hatten sie Ferien, und Kaltenbach nutzte seinen leeren Terminkalender, um mit der Forschungs- und Beratungsarbeit voranzukommen.
Allein in dieser Woche hatte er vierhundert Reichsmark für die Beratung des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden erhalten. Er hoffte, der Ausschuss möge beschließen, Eltern kränklicher Kinder zu sterilisieren.
Und dann war da noch sein Beratervertrag mit dem Reichssippenamt, ehemals »Reichsstelle für Sippenforschung«. Seit der Besetzung Polens arbeiteten in Deutschland viele Ostarbeiter. Jetzt würden aus den eroberten Gebieten in der Sowjetunion noch mehr von ihnen eintreffen. Trotz der strengen Gesetze, die Beziehungen zwischen Untermenschen aus dem Osten und Deutschen unter Androhung drakonischer Strafen verboten, kam es zu zahlreichen Gerichtsverfahren – eine traurige Parade von Bäuerinnen, die sich von polnischen Landarbeitern hatten schwängern lassen, und Werksleitern, die es mit polnischen Dienstmädchen trieben.
Kaltenbachs Aufgabe war es, den Grad rassischer Reinheit des Kindes festzustellen. Hatte der polnische Elternteil einen gewissen Anteil deutschen Blutes, wurde der Nachwuchs unter Umständen als hinnehmbar betrachtet. War der polnische Elternteil jedoch reinrassig slawisch, galt das Kind als »unerwünschter Bevölkerungszuwachs«. Was danach geschah – Abbruch der Schwangerschaft, wenn das Kind noch nicht geboren war, oder Unterbringung in einer Ausländerkinder-Pflegestätte –, hatte den Professor nicht zu kümmern. In solchen Fällen wurden die Eltern hart bestraft. Die slawischen Rassenschänder, insbesondere die Männer, wurden hingerichtet. Die deutschen Rassenschänder steckte man in ein Arbeitslager.
Eine angenehmere Arbeit war die Bestätigung der Echtheit der Ahnenpässe, die für eine Mitgliedschaft in der SS erforderlich war: Die Kandidaten mussten nachweisen, dass sie eine bis ins Jahr 1800 makellose arische Abstammungslinie besaßen.
Die Entscheidung darüber, was »rassisch wertvoll« oder »rassisch wertlos« war, brachte Kaltenbach ansehnliche Honorare ein. Zudem trug es zur Gesundung und Reinigung des Blutesbei, von der Reichsführer Himmler bei seinem Besuch im Institut gesprochen hatte. Darauf war Professor Kaltenbach besonders stolz.
Nicht immer hatte es das Leben so gut mit ihm gemeint. Als er sein Studium mit der Erlangung der Doktorwürde abgeschlossen hatte, bot ihm niemand einen Lehrauftrag an. Der Gedanke, sein Talent verschwenden zu müssen, indem er Gymnasiasten die Grundlagen der Wissenschaft vermittelte, nur um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hatte ihn wütend gemacht.
Doch dann, nach Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 , war der Nazibesen durch die Universitäten gefegt und hatte sie judenfrei hinterlassen. Urplötzlich waren reichlich Stellen frei. Und Kaltenbach war genau die Sorte Mensch, die den Vorstellungen von Deutschlands neuen Herren entsprach. Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei seit 1931 , hatte er besonders mit seinen Forschungen zu den Blutgruppen der verschiedenen Rassen Aufsehen erregt. Mit genügend Zeit und Geld, so seine Überzeugung, würde er chemische Indikatoren im Blutserum finden können, mittels deren sich die rassische Abstammung einer Person zweifelsfrei nachweisen ließ.
Dieser Gedanke stieß bei dem neuen Regime auf Anklang, und augenblicklich wurden die dafür nötigen Mittel bereitgestellt. Die Erlaubnis zu heiraten, die Mitgliedschaft in der Elitetruppe SS , in unteren Schichten der deutschen Gesellschaft sogar das Recht, Kinder in die Welt zu setzen – alles hing von der rassischen Reinheit ab. Ein medizinischer Test, der unbestreitbar zeigte, dass eine Person mit jüdischem oder slawischem Blut verseucht war, würde von größtem Nutzen sein. Und weitaus bequemer, als Dokumente anfordern und prüfen zu müssen, die die arische Abstammung nachwiesen. Allein der Papierkriegwar eine ungeheure
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