Ausländer
sehen.« Das waren stets ihre Worte gewesen, wenn er über irgendetwas geklagt hatte.
Daran hielt er sich. Tags zuvor hatte ihm die Heimleiterin erzählt, eine Familie aus Berlin sei sehr daran interessiert, ihn kennenzulernen.
»Es sind gut betuchte, wichtige Leute«, hatte sie erklärt. »Professor Kaltenbach ist stellvertretender Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts. Und Frau Kaltenbach führt in Berlin ein Lebensborn-Heim wie dieses. Sie haben drei Töchter. Wenn sie dich also aufnehmen, werden sie sich bestens um dich kümmern.«
Nun hatte man ihn hereingerufen und erklärt, sie seien auf dem Weg. Während er dasaß und sich fragte, wie sie wohl sein mochten, tickte die Uhr laut und vernehmlich. Wo blieben sie denn? Was würde mit ihm geschehen?
Er starrte auf den Kalender an der Wand. Das August-Bildzeigte einen SS -Soldaten in voller Uniform und kniehohen schwarzen Stiefeln, der neben einem Kinderwagen aus Korb kauerte. Wohlwollend lächelte er ein winziges blondes Baby an, das sein Köpfchen neugierig über den Rand streckte. Piotr dachte an den Soldaten, der ihn vom Anwesen seiner Familie in Wyszków verscheucht und seinen Hund erschossen hatte. Er hatte die gleichen schwarzen Stiefel getragen, und seine Uniform war mit den gleichen blitzförmigen Streifen und Totenkopfsymbolen geschmückt gewesen.
Piotr stand auf und blätterte den Kalender weiter. Immerhin war jetzt schon September. Das neue Motiv zeigte eine stolze deutsche Mutter mit fünf Jungen – alle in der Uniform der Hitlerjugend, alle kaum ein Jahr auseinander.
An der Tür bewegte sich etwas. Ein hochgewachsener, korpulenter Mann in einem teuren Anzug und mit einem Ziegenbart, wie ihn Wissenschaftler oft trugen, trat ein, gefolgt von einer mittelgroßen Frau mit etwas angsteinflößendem Blick. Ihre schlanke Gestalt steckte in einem Kostüm, dazu trug sie eine weiße Bluse. Das Haar hatte sie zu einem engen, aus vielen aufwändig geflochtenen Zöpfen bestehenden Knoten geschlungen, und sie strahlte eine eisige Selbstsicherheit aus.
»Heil Hitler! Mein Name ist Professor Kaltenbach«, sagte der Mann, salutierte und schüttelte anschließend kräftig Piotrs Hand.
Piotr erhob sich und starrte die beiden an. Musste er jetzt mit »Heil« antworten?
»Und das ist Frau Kaltenbach.«
Frau Kaltenbach berührte ihn nicht. Sie hielt sich auf Distanz, schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns und blieb mit gefalteten Händen stehen, um ihn zu mustern.
»Guten Tag«, sagte Piotr. Was sollte er mit diesen Leuten reden? Vor Verlegenheit errötete er.
»In Deutschland«, sagte Professor Kaltenbach so langsam, als würde er mit einem Ausländer, der kaum ein Wort Deutsch konnte, oder zu einem Schwachsinnigen sprechen, »begrüßt man sich heutzutage mit ›Heil Hitler‹, und dann salutiert man. So.« Er salutierte nach Nazimanier, mit ausgestrecktem rechtem Arm. »Das ist der deutsche Gruß. Versuch es mal!«
Piotr salutierte halbherzig. »Äh, heil.«
»Nein, nein!«, erklärte Kaltenbach übereifrig und lachte gutmütig. »Du musst dich gerade halten. Und den Arm in die Luft stoßen. Heil Hitler!«
Piotr reckte sich und kam sich furchtbar albern vor. »Heil Hitler.« Diese Worte auszusprechen, brachte er kaum über sich. Sie erwarteten ja wohl von einem Jungen aus Polen nicht, dass er herumlief und alle mit »Heil« grüßte?
»Setz dich, mein junger Freund. Wir müssen einander kennenlernen.«
Zu seiner Überraschung merkte Piotr, dass er Kaltenbach ganz sympathisch fand. Er tat zwar recht wichtig, war aber offenbar ganz umgänglich. Eine gute Mischung. Wichtigtuerisch und kalt. Wichtigtuerisch und jähzornig. Das hätte er nicht ertragen. Wichtigtuerisch und umgänglich war vielleicht in Ordnung.
»Sag uns deinen Namen«, sagte Kaltenbach.
»Ich heiße Piotr Bruck.«
»Ein guter deutscher Name. Du wirst ihn natürlich anders schreiben und aussprechen müssen. Von nun an wirst du Peter heißen. P-E-T-E-R . Und das R wird nicht gerollt. Erzähl uns, was dir zugestoßen ist«, forderte der Professor ihn auf. »Wieso bist du in das Waisenhaus in Warschau gekommen?«
Piotr erzählte, wie seine Eltern am ersten Tag der sowjetischen Invasion umgekommen waren, wie die Deutschen den Bauernhof beschlagnahmt und seinen Hund erschossen hatten und wie er in das Waisenhaus abgeschoben worden war. Es brach alles aus ihm heraus, und er konnte selbst kaum glauben, wie viele schreckliche Dinge ihm in den vergangenen Monaten zugestoßen waren. Während
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