Ausländer
mit Bajonetten an ihren Gewehren erspähte. Da erhielt er einen harten Schlag auf seinen Hinterkopf. »Augen nach vorn!«, brüllte ein Soldat. Piotr hatte solche Angst, dass er glaubte, sich gleich in die Hose zu pinkeln.
Auf dem Tisch stand ein großer kastenförmiger Aktenordner. Darauf stand mit einer Schablone in dicken schwarzen Buchstaben geschrieben:
RASSE- UND SIEDLUNGSHAUPTAMT
Piotr hatte jetzt die Spitze der Warteschlange erreicht und betete inständig, nicht in das Zimmer rechts geschickt zu werden. Einer der Männer in den gestärkten weißen Kitteln sah ihn gleichgültig an. Dann lächelte er und wandte sich an seinen Kollegen, der zu einem merkwürdig aussehenden Instrument griff. Es erinnerte Piotr an eine ganz dünne Zange. Auf dem Tisch lagen mehrere solcher Geräte. Es waren bedrohlich aussehende medizinische Instrumente, aber ihr Zweck war nicht, Körperöffnungen oder chirurgische Schnitte zu dehnen oder offen zu halten. Bei diesem Modell handelte es sich um eine Zange, in deren Schenkel aus poliertem Stahl Zentimeterskalen eingestanzt waren.
»Da müssen wir wohl nicht lange überlegen«, sagte der Mann zu seinem Kollegen. »Er ist ja dem Jungen auf dem Plakat der Hitlerjugend wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Sie setzten die Zange beidseits an seine Ohren und vermaßen rasch seinen Kopf. Der Mann signalisierte Piotr lächelnd, er solle in das Zimmer links gehen, was dieser ohne Zögern tat. Dort warteten, angezogen, bereits andere Jungen. Als sich seine Angst löste, kam er sich dumm vor, wie er so dastand, nackt und seine Kleider an sich gepresst. Es gab hier keine Soldaten, nur zwei Krankenschwestern, die eine beleibt und mütterlich, die andere jung und zierlich. Piotr lief vor Scham rot an. Er entdeckte eine Tür mit der Aufschrift Herren und stürzte hinein.
Nachdem der schmerzhafte Druck in seiner Blase aufgehörthatte, war Piotr vor Erleichterung ganz schwindelig. Sie hatten ihn nicht in das Zimmer rechts und zu dem Wagen mit der Plane geschickt. Er war hier bei den Krankenschwestern. Es gab einen Tisch mit Keksen, Bechern und einem Wasserkrug darauf. Piotr fand eine Stelle am Fenster, wo er sich anziehen konnte. Als er ins Waisenhaus gekommen war, hatte er nur die Kleider besessen, die er am Leib trug; diese zweite Garnitur hatte man ihm mitgegeben. Manchmal fragte er sich, wem der schmuddelige Pullover wohl gehört hatte, und hoffte, dass sein früherer Träger nur aus ihm herausgewachsen, nicht aber gestorben war.
Piotr musterte die anderen Jungen in der Runde. Ein paar kannte er, doch es war keiner dabei, den er als Freund bezeichnet hätte.
Draußen auf dem Gang hörte er Holz über den gewienerten Boden schaben. Der Tisch wurde weggeräumt, die Selektion war zu Ende. Die zuletzt hereingekommenen Jungen zogen sich rasch an, als die ältere Krankenschwester in die Hände klatschte, damit alle ihr Beachtung schenkten.
»Kinder«, sagte sie in stockendem Polnisch und mit schnarrendem deutschen Akzent. »Hier sehr wichtige Herren mit euch reden wollen. Wer von euch sprechen Deutsch?«
Niemand meldete sich.
»Kommt schon«, sprach sie lächelnd weiter. »Nicht schüchtern sein.«
Piotr hatte das Gefühl, dass ihm diese Frau nichts Böses wollte. Er trat vor und antwortete ihr in fließendem Deutsch.
»Na, du bist ein kluger Junge«, erwiderte sie auf Deutsch und legte ihm ihren molligen Arm um die Schulter. »Wo hast du denn so gut Deutsch gelernt?«
»Durch meine Eltern, Schwester«, sagte Piotr. »Sie sprechen beide …« An der Stelle brach er ab, und als er schließlich fortfuhr, zitterte seine Stimme. »Sie haben beide Deutsch gesprochen.«
Die Krankenschwester umarmte ihn noch fester, während er mit den Tränen kämpfte. Im Waisenhaus hatte ihn niemals jemand so freundlich behandelt.
»Nun, wie heißt du denn, mein Junge?«, fragte sie. Unter Schluchzern stammelte er seinen Namen.
»Nimm dich zusammen, kleiner Piotr«, flüsterte sie auf Deutsch. »Der Doktor ist kein sehr geduldiger Zeitgenosse.«
Der große dunkelhaarige Mann, den Piotr bereits zuvor gesehen hatte, betrat den Raum. Er ging auf die Krankenschwester zu und wollte wissen, welcher der Jungen Deutsch spreche. »Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit«, entgegnete sie. Dann wandte sie sich wieder an Piotr und sagte sanft: »Jetzt trockne dir die Augen. Ich möchte, dass du den anderen Kindern übersetzt, was der Doktor sagt.«
Sie kniff ihm in die Wange, worauf Piotr nervös nach vorn trat und
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