Ausländer
nationalsozialistischen Pflichten«, sagte Kaltenbach. »Daran habe ich keinerlei Zweifel.«
Die Mädchen würden ihn sehr schnell lieb gewinnen, dessen war er sich sicher. Obgleich ihn Elsbeth, mit zwanzig Jahren die Älteste, vor nicht allzu langer Zeit enttäuscht hatte. Sie hatte erklärt, nicht mehr als Krankenschwester arbeiten zu wollen, und war nach Hause zurückgekommen. Seither arbeitete sie bei der Post, doch das fand Kaltenbach ihrer nicht würdig. Dabei war sie bis dahin eine so folgsame, pflichtbewusste Tochter gewesen. Vielleicht machte sie ja ihre rebellischen Jugendjahre zu einem späteren Zeitpunkt durch, als das normalerweise der Fall war.Sie hatte sogar wieder angefangen, in die Kirche zu gehen – was so gar nicht im Sinne der Partei war. Traudl, eine lebhafte Dreizehnjährige, und Charlotte, die reizende Achtjährige, hatten seinen Unmut bislang nicht erregt.
»Der Junge ist blond, sagst du?«, fragte Frau Kaltenbach. »Wird er da in unserer Familie nicht ein bisschen fremd wirken?«
Professor Kaltenbach war ein dunkler Typ, sehr dunkel sogar. Sein rundes Gesicht erschien jetzt, in der Lebensmitte, ein wenig dicklich. Frau Kaltenbach hatte volles braunes Haar, ebenso die Mädchen. Das machte nichts. Dunkles Haar war ein klassisches Merkmal der bayerischen und österreichischen Germanen. Auch der Führer war dunkelhaarig. Dennoch hatte Kaltenbach seine helleren, nordischer wirkenden Landsleute, wie etwa Gruppenführer Reinhard mit seinem blonden Schopf und den markanten Gesichtszügen, stets beneidet. Einen Jungen von solchem Aussehen großzuziehen, würde ihn mit Stolz erfüllen.
»Er ist aber wohl ein strammer Bursche – dreizehn, sagst du?«, fragte Frau Kaltenbach nach. »Ein Baby würden die Mädchen vielleicht eher akzeptieren.«
Ihr Mann streckte den Arm über den Tisch und legte seine Hand auf ihre. »Liese, bei Charlottes Geburt wärst du beinah gestorben. Und selbst wenn wir das Risiko eingehen würden, noch ein Kind zu bekommen, würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein Mädchen werden. Ich schlage vor, wir fahren hin und sehen ihn uns an. Und treffen danach unsere Entscheidung.«
Nachdem sie sich eilig um eine Beurlaubung gekümmert hatten, machten sich Franz und Liese Kaltenbach auf den Weg zum Lebensborn-Heim in Klosterheide.
Kapitel sieben
Klosterheide
2. September 1941
Piotr saß allein in einem spartanisch eingerichteten Nebenzimmer des Heims. Fräulein Spreckels hatte ihn vom Bahnhof hergebracht und dann allein gelassen, nachdem sie ihn freundlich in die Wange gekniffen hatte. Seit ungefähr einer Woche wartete er jetzt. Er war zu ruhelos, um sich lange mit einem Buch oder einer Zeitschrift hinzusetzen, und herumlaufen durfte er nur auf dem Gelände, nicht außerhalb.
»Letzte Woche sind zwei von euch Polacken abgehauen«, hatte die Heimleiterin bei seiner Ankunft erklärt. »Dazu wird es NICHT noch einmal kommen.«
»Frau Oberschwester«, hatte Piotr entrüstet entgegnet. »Ich will doch nach Deutschland. Warum sollte ich denn abhauen?«
Draußen schien die Spätsommersonne auf die schön gestalteten Parkanlagen des Heims. Junge Frauen spazierten zu zweit oder zu dritt mit ihren Säuglingen und Kinderwagen und unterhielten sich dabei. Zunächst hatte Piotr sich gefragt, was sie hier machten. Dann hatte eine der netteren Schwestern ihm erklärt, dass die Lebensborn-Heime eigentlich nicht für Kinder wie ihn gedacht waren, sondern hauptsächlich für unverheiratete junge Frauen, die dem Reich ein Kind schenken wollten, aber die Missbilligung von Verwandten und das Gerede der Nachbarn fürchteten. Hatten sie ihre Kinder zur Welt gebracht,würden sie sie zur Adoption freigeben und in ihr altes Leben zurückkehren.
Die Sonne bewirkte, dass Piotr sich einsam fühlte. Fünf oder sechs Wochen war es jetzt her, dass seine Eltern umgekommen waren. Er dachte inzwischen nicht mehr an sie, als wären sie noch am Leben. Anfangs waren ihm wochenlang Gedanken durch den Kopf gegangen wie »Papa wird sich richtig freuen, wenn ich das mache« oder »Das muss ich Mama erzählen, es wird sie interessieren«.
Doch dann war ihm schlagartig die Realität bewusst geworden, und er hatte seine Tränen nur mühsam zurückhalten können. In dieser Zeit hatte er sich sehnlichst einen Bruder oder eine Schwester zur Gesellschaft gewünscht. Niemals in seinem Leben hatte er sich so allein gefühlt. Aber was hatte seine Mutter ihm so oft gesagt? »Versuch an allem die gute Seite zu
Weitere Kostenlose Bücher