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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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»Würde des Menschen« nicht anzutasten, ist nicht auf deutsche Menschen beschränkt, das Grundgesetz meint vielmehr jeden einzelnen Menschen. Es schließt einen Gegner ebenso ein wie einen eventuellen Feind.

Das Gewissen als höchste Instanz
    Demokratische Politiker führen nicht allein durch ihr Handeln, sondern auch durch öffentliche Reden; so war es schon zu Zeiten von Perikles oder Cicero, so ist es noch heute. Geniale, mitreißende Reden haben im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zahlreiche Menschen bewegt und dadurch Politik gemacht. Als Kennedy 1961 in seiner idealistischen Inaugurationsansprache seine Landsleute aufrief, nicht zu fragen, was sie von ihrem Vaterland erwarten, sondern umgekehrt zu fragen, was sie für ihr Vaterland tun können – »Don’t ask what your country can do for you … ask what you can do for your country!«–, war ich hingerissen. Später erst habe ich begriffen, daß derselbe Kennedy – zum Teil abermals aus Idealismus – Amerika in den VietnamKrieg verwickelte, was sich als ein folgenschwerer Fehler erwies.
    Der politische Wettbewerb verleitet die Beteiligten oft zu Übertreibungen. Deswegen habe ich mich in öffentlicher Rede mit der Verkündung moralischer Prinzipien generell zurückgehalten. Die Bürger, so glaubte ich, würden auch ohne meine rhetorische Nachhilfe erkennen, daß ich nach den Kriterien der Vernunft und der Moral regierte. Darin habe ich mich gründlich geirrt, denn manch einer hat das leider nicht erkennen können oder nicht erkennen wollen – so auch der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl. Über die Frage der geistigen und moralischen Führung der Nation entbrannte damals eine sich über Jahre hinziehende Kontroverse. Die CDU/CSU verlangte von der sozialliberalen Koalition »geistige und moralische Führung«, und Kohl fragte nach »der großen Vision«. Ich verwahrte mich wiederholt gegen den Anspruch, die Regierung habe eine für Volk und Gesellschaft sinnstiftende Instanz zu sein: »Regierung und Parlament haben vielmehr die Aufgabe, Freiheit zu sichern, Gerechtigkeit zu sichern, sich um Solidarität zu bemühen und (auch) darum, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar zu machen.« In einer Gesellschaft mit vielfältigen religiösen und philosophischen Grundüberzeugungen sei geistige und moralische Führung Aufgabe von vielen, nicht aber der Regierung; das geistige Leben des Landes beruhe auf »Vielfalt und Toleranz«.
    Diese Debatten liegen heute über ein Vierteljahrhundert zurück. Auch wenn in der Hitze des parlamentarischen Gefechts manches vielleicht ein wenig einseitig formuliert wurde, möchte ich doch bei meiner Haltung bleiben. Ich erinnere mich, Richard von Weizsäcker zugestimmt zu haben, der damals hervorhob, es sei nicht Aufgabe des Bundeskanzlers, für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften. Die geistige und moralische Grundlage unserer Gesellschaft liegt allein in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes, insbesondere im Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die im Artikel 1 verankert ist. Die Regierung darf Orientierung nur hier, nicht aber an anderen Orten und in anderen Gefilden suchen. Ohne Ironie füge ich hinzu: Als Kohl im Oktober 1982 als Kanzler die »geistigmoralische Wende« verkündete, wendete sich allein der liberale Koalitionspartner, indem er aus Parteiinteresse die Koalition wechselte. Soviel ich erkennen konnte, hat später auch die christlichliberale Regierung unter Helmut Kohl weder geistige noch moralische Führung ausgeübt.
    Natürlich geht von den politischen Parteien und von der politischen Klasse insgesamt Führung aus,und deshalb kann eine Regierung auch Anstöße geben. Ein gutes Beispiel ist Willy Brandts Verständigungspolitik mit dem kommunistisch beherrschten Osten Europas. Sie schien in seinem Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto zu gipfeln; was darin tatsächlich zum Ausdruck kam, war das Bekenntnis zur deutschen Schuld an der Vernichtung der Juden. Ein weiteres herausragendes Beispiel gab Richard von Weizsäcker als Bundespräsident mit seiner Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985; sie verhalf vielen Deutschen endlich zu der Erkenntnis, daß der 8. Mai 1945 weniger eine Niederlage als vielmehr eine Befreiung der Deutschen gewesen ist. Beide Male gründete politisches Handeln im Bewußtsein von der Würde des Menschen. Brandt wie Weizsäcker haben in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz gehandelt, sie haben sich nicht auf christliche oder andere

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