Ausser Dienst - Eine Bilanz
gehalten.
Die Strategie der nuklearen Vergeltung hingegen ist mir zunehmend als fragwürdig erschienen. Für mich war die prinzipielle Überzeugung maßgebend, daß jedweder Einsatz einer atomaren Waffe in Deutschland der Kontrolle der Bundesregierung vorbehalten bleiben mußte, weil ein atomarer Krieg zwangsläufig zur Auslöschung großer Teile des deutschen Volkes und zur Verwüstung weiter Landstriche führen würde. Leben und Wohl des eigenen Volkes zu sichern war der meiner Politik zugrunde liegende moralische Maßstab. Der gleiche Maßstab galt 1979 für den auf Gleichgewicht zielenden NATO-Doppelbeschluß, der 1987 dank Gorbatschow und Reagan zur beiderseitigen Beseitigung von Atomwaffen mit innereuropäischen Reichweiten geführt hat.
Einen Krieg zu führen, der das eigene Volk auslöschen kann, ist sinnloses Heldentum; nach den beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki war deshalb die Kapitulation Japans dringend geboten. Hitler dagegen war willens gewesen, die Ver nichtung der eigenen Nation in Kauf zu nehmen – ein zutiefst unmoralisches Verhalten. Einen Krieg zu führen, der ein fremdes Volk ganz oder teilweise auslöschen oder verkrüppeln kann, ist moralisch genauso verwerflich. Deshalb war der Rückzug der USA aus dem Krieg in Indochina zwingend notwendig, auch wenn Nixon – reichlich spät – aus eigenem amerikanischen Interesse handelte.
Die vielfältigen Beispiele von grenzüberschreitendem Terrorismus – am schlimmsten bisher am 11. September 2001 in New York – stellen die heutigen Staaten vor neuartige Fragen der Abwägung: Welches Machtmittel darf ich einsetzen? Gegen wen? Wenn der Regierungschef eines Staates einem anderen Staat die Beseitigung androht, wie im Oktober 2005 Präsident Mahmud Ahmadinedschad dem Staat Israel, dann können solche Fragen von existentieller Bedeutung werden. Sorgfältigste Abwägung der zur Abhilfe nötigen Mittel ist geboten. Das den Frieden wahrende Prinzip der Nichteinmischung kann in Konflikt mit Vernunft und Moral geraten.
Wenn die Gefahr eines militärischen Konflikts gegeben ist, darf sich ein Staatslenker nicht einer allgemeinen Hysterie ausliefern. Weder darf er selbst eine Psychose erzeugen, noch darf er sich in seiner Entscheidung durch Massenmedien oder Demagogen im eigenen Land beeinflussen lassen. Er ist angewiesen auf die Anstrengung seiner Vernunft, auf sein eigenes Urteil und auf seine moralischen Grundwerte. So haben sich Kennedy und Chruschtschow im Jahr 1962 bei der Entschärfung der äußerst bedrohlichen Kuba-Raketenkrise verhalten; so später erneut beide Supermächte bei ihren einvernehmlichen SALT-, Start- und ABM-Verträgen. Nicht so Bush jun., als er im Dezember 2001 den seit 1972 geltenden ABM-Vertrag mit der Sowjetunion kündigte, so erneut, als er 2002 den Anspruch auf präventive Kriegführung zur offiziellen strategischen Doktrin erhob – und schließlich, als er den Irak angriff. Wenn dem Fehlurteil dann auch ein großer Fehlschlag folgt, kann die Mehrheit eines Volkes sich vom Krieg abwenden, dadurch die Niederlage und außerdem den Sturz der Regierung auslösen.
Seit 1949 ist kein Bundeskanzler solchen Gefahren ausgesetzt gewesen, dank der Einbettung unserer auswärtigen Politik in die europäische Integration und in die NATO. Wenn Deutschland bis Afghanistan ein halbes Jahrhundert lang an keinem Krieg beteiligt gewesen ist, so ist das zum Teil auch ein Verdienst der Bundesregierungen. Hysterien und Psychosen hat es zwar gegeben – ich erinnere an agitatorische Parolen wie »Soldaten sind Mörder« oder »Lieber rot als tot«–, aber keine dieser Parolen hat sich gegen einen anderen Staat gerichtet.
Unseren äußeren Frieden zu bewahren erscheint mir als das maßgebende Prinzip für alle Außenpolitik. Dieser Maßstab zwingt uns gewiß zu mancherlei Kompromissen. Ebenso sicher zwingt er uns nicht zur Unterwerfung unter fremde Gewalt. Wohl aber gelten für auswärtige Streitigkeiten die gleichen moralischen Maßstäbe wie für Streitigkeiten im Innern des Vaterlandes: Alle Konfliktlösungen bedürfen der voraufgehenden Entscheidung im eigenen Gewissen. Es darf keine moralische Eigengesetzlichkeit der auswärtigen Politik geben, die sich auf »realpolitische Notwendigkeit« beruft. Der Patriotismus, für den ich eintrete, hat deshalb nichts zu tun mit jenem Nationalismus im Sinne von »Deutschland, Deutschland über alles« oder »Right or wrong – my Country«. Das Gebot im Artikel 1 unseres Grundgesetzes, die
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