Lesereise Kulinarium - Spanien
Die innere Uhr umstellen, bitte!
Vorwort
Nicht nur die Liebe, auch das Reisen geht gewissermaßen durch den Magen. Das Fernweh und der Umgebungswechsel vermitteln sich bei Tisch oder an der Bar nicht nur besonders genussvoll, sondern auch nachhaltig. Längst haben die Spitzenprodukte der spanischen Lebensmittelproduktion – vom queso manchego bis zu den aceitunas , von den Orangen bis zum Serrano -Schinken und der chorizo , vom sherry bis zum rioja und zum cava – über die Supermärkte hinaus auch die Haushalte in ganz Europa erobert und damit den Ruf der spanischen Küche gemehrt. Mag die französische Spitzengastronomie eine längere Tradition als Inbegriff des Raffinements haben und mag die italienische Küche als die verlässlichste bodenständige in Europa gelten: Spaniens Köchinnen und Köche können gewiss mit beiden mithalten.
Wer sich also mit Vorfreude auf den Weg macht, um in einer spanischen Tapas -Bar, in einem restaurante, einer bodega oder einem einfachen chiringito am Strand dem Genuss nachzugehen, möge bloß auf eines achten: Ohne Umstellung der inneren Uhr wird es nicht gehen. Wenn überall in Europa die Tische bereits abserviert sind, die letzten Gäste schon den Abschiedsdigestif eingenommen haben, dann beginnt in Spaniens Lokalen erst das Hauptgeschäft. Verblüffenderweise speisen die Spanier – diesbezüglich übrigens ihren portugiesischen Nachbarn gleichend – gerne lang nach Einbruch der Dunkelheit, und wer sich im Restaurant nicht ausschließlich unter Touristen wiederfinden will, kann sich schon einmal darauf einstellen, sein Hauptgericht erst gegen Mitternacht serviert zu bekommen. Da Spanien aber eigentlich im europäischen Rhythmus lebt, die Büros also durchaus um neun Uhr morgens besetzt und in Betrieb sind, braucht es nicht zu verwundern, dass dem Frühstück, so wenige Stunden nach der Hauptmahlzeit, auf der iberischen Halbinsel nur nachgeordnete Bedeutung zukommt.
Spanien ist aus gutem Grund eines der beliebtesten Reiseziele Europas. Zwischen Frankreich und Nordafrika liegend, das Mittelmeer westlich abschließend und im Süden bis an den Atlantik reichend, bildet es nicht nur geografisch eine Brücke zwischen den Kulturen, auch in der alltäglichen Lebenskunst vereint und integriert es so viele Einflüsse, dass daraus ein reiches Repertoire an Genüssen entstanden ist.
Dieser Band versammelt Geschichten, die nicht nur Lust auf die spanische Küche, die Erzeugnisse der Winzer und Olivenbauern, oder die Neugierde auf einen Besuch in einer pastelería wecken sollen, es geht vielmehr auch um das spanische Lebensgefühl, das die Menschen, die hinter diesen Köstlichkeiten stehen, vermitteln.
Dorothea Löcker &
Alexander Potyka
»Tapas« und Demokratie
Die Kunst der Kleinigkeiten auf dem Teller
Die Cervecería Giralda ist im Winter eigentlich ungemütlich. Auf dem Marmorfußboden bekommen die Gäste kalte Füße und die bis auf Kopfhöhe gekachelten Wände verströmen ebenfalls wenig Behaglichkeit. Durch die großen Fensterflügel zieht es, der Stuck an der Decke verleiht der Bar zwar ein orientalisches Aussehen, aber keine warme Atmosphäre. Aus der ganzen Stadt kommen die Sevillanos in die Cervecería Giralda, hinter der Kathedrale und dem Turm La Giralda, dem Wahrzeichen der Stadt. An der hölzernen Theke mit dem Messinghandlauf kann man prima stehen und während des Essens mit einer freien Hand gestikulieren. Hier haben die Gäste auch einen guten Überblick über die Liste der tapas , die einer der wesentlichen Gründe für einen Besuch in der Cervecería Giralda sind. Der andere Grund ist nicht minder wichtig und sehr sevillanisch: Dort beginnt eben eine klassische Tapa -Runde am Abend. Und die Sevillanos halten auf Traditionen.
Tapas haben zwar ihren Siegeszug durch Europa angetreten, aber die Hauptstadt der tapa ist unbestritten Sevilla. »En Sevilla no se come, se tapea« heißt es: In Sevilla speist man nicht, man isst tapas . Die kleine Köstlichkeit, die ebenso aus einem mit Lauchcreme gefüllten Seeigel wie aus einem kleinen Schweinefilet mit zerlaufenem Ziegenkäse bestehen kann, schmeichelt dem Gaumen gerade lang genug, bis ein Schluck Wein oder Sherry den Geschmack vervollkommnet hat. Eine gute tapa vermittelt einen perfekten Genuss, gerade lang genug, um die Aufmerksamkeit des flüchtigen Essers zu bannen und in einen kurzen Augenblick des Glücks zu versetzen. Eine tapa ist der Flirt mit dem Essen – intensiv, eindeutig und einen Moment lang die
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