Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Prophezeiungen dem letzten römischen König zum Kauf anbot, lehnte dieser zwei Mal ab. Daraufhin verbrannte sie erst drei davon und dann noch einmal drei, ehe der Ältestenrat darauf bestand, die letzten drei zu kaufen – und zwar zum ursprünglich für alle neun geforderten Preis!« Beide lachten. »Und so versuchen sie heute, die Zukunft aus himmlischen Zeichen zu ergründen, vertiefen sich in die verbliebenen Zeilen oder pilgern zu den Orakeln in anderen Länder.«
»Ich habe gehört, dass es in Delphi ein Orakel gibt. Ist sie Jungfrau?«
»Sagt man. Die Pythia, die Prophetin des Orakels von Delphi, ist eine unberührte Jungfrau. Doch wir wissen aus der Überlieferung, dass man zu anderen Zeiten auch ältere Frauen erwählt hat, die bereits Kinder großgezogen hatten.«
»Aber keine Frau, die einen Ehemann oder einen Geliebten hat …«, bemerkte Boudicca, und Lhiannon unterbrach sie mit einem Seufzer.
»Es gibt noch andere Arten der Prophezeiung, denen sich eine verheiratete Frau zuwenden kann. Um himmlische Zeichen zu deuten oder auf irgendeine Frage hin aus dem Stegreif zu orakeln, wie man das hier und da in Eriu tut, muss man nicht in ein so tiefes Trancestadium sinken. Aber der echte Dämmerzustand, in dem ein druidischer Priester den Namen des rechtmäßigen Königs vorausahnt, verlangt von ihm, sich durch Gebet und Fasten vorzubereiten. Und auf dem dreibeinigen Orakelstuhl zu sitzen verlangt eine gar noch tiefere Hingabe. Dazu müssen alle Kanäle geöffnet sein.« Wieder seufzte sie.
»Und das willst du …«, sagte Boudicca.
»Ja. Die Visionen rufen mich, so wie sie Coventa gerufen haben, aber ich muss ihnen widerstehen.«
Über das Knistern des Feuers hinweg konnten sie das Pfeifen der Dudelsäcke hören und einen plötzlichen Schrei, als ein glückliches Paar über die Flammen sprang. Lhiannon drehte sich um, und in ihren Augen schimmerten unvergossene Tränen.
»Ich muss ihnen widerstehen«, sagte sie noch einmal. »Helve ist der Liebling der Priester, und ich werde nie auf dem Orakelstuhl sitzen, solange sie hier ist.«
»Dann solltest du nach dem streben, was du bekommen kannst «, sagte Boudicca. »Coventa braucht nur eine, die bei ihr wacht. Wenn dort draußen jemand auf dich wartet«, sagte sie taktvoll, »dann geh zu den Feuern – die Wache kann ich übernehmen.«
»Ja, es hat jemand gewartet, aber ich glaube nicht, dass er jetzt noch da ist«, sagte die Priesterin leise, den Kopf geneigt, sodass die glänzende, lange Haarpracht ihr Gesicht verhängte. »Ich habe einmal geglaubt, dass die Göttin mich gerufen hat, um ihr als Orakel zu dienen, aber nun scheint der Weg versperrt. Ich werde festgehalten, egal, in welche Richtung ich mich wende.«
Boudicca starrte sie an, verblüfft darüber, dass selbst eine pflichtgetreue Priesterin von Zweifeln geplagt wurde, so wie sie es von sich selbst kannte.
»Woher willst du den Willen der Göttin kennen?«, rief sie. »Spricht sie mit dir?«
Mit einem schaudernden Seufzen blickte Lhiannon zu ihr auf. »Manchmal … obschon ich für gewöhnlich viel zu fixiert bin auf meinen eigenen Schmerz, um sie zu hören, gerade dann, wenn ich es am meisten will.«
Wie jetzt …, dachte Boudicca.
»Manchmal spricht sie zu mir durch andere Zungen«, ‚sagte Lhiannon mit einem verzerrten Lachen, »so wie im Augenblick, wo ich glaube, dass sie durch dich zu mir spricht. Ein oder zwei Mal hat sie laut zu mir gesprochen, als sie während eines Rituals in Mearans Körper weilte, und hin und wieder habe ich sie schon in der tiefsten Stille meiner Seele sprechen hören. Manchmal wissen wir erst, welche möglichen anderen Entscheidungen wir hätten treffen können, nachdem wir eine Entscheidung gefällt haben. Ich dachte, um Liebe zu bekommen, müsste ich auf Macht verzichten, aber stattdessen scheint es mir, als hätte ich Liebe gegen pflichtvollen Dienst eingetauscht.«
»Oder vielleicht gegen Freundschaft?«, fragte Boudicca und merkte, dass sie selbst gerade ihre eigenen inneren Schranken abbaute, die sie hier auf Mona allein und einsam gemacht hatten – wie einsam sie gewesen war, das erkannte sie erst jetzt.
Lhiannon lächelte. »Ja, kleine Schwester – vielleicht.«
DREI
An einem heißen Nachmittag, kurz vor dem Fest des Gottes Lugos, hallte das Dröhnen der bronzenen Carynxe über die Felder. Sie verkündeten die Ankunft der Könige, die der Erzdruide einberufen hatte, um sich über das Schicksal Britanniens zu beraten. Boudicca eilte rasch zum
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