Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Lhiannon. »Wenn Coventa gestorben wäre, würdest du dich dann für ihren Tod verantwortlich fühlen?«
Boudicca sah auf, begriff, dass es ihr um etwas ganz anderes ging. »Meinst du, dass das, was geschehen ist, in meiner Verantwortung lag?«
Lhiannon sah sie an, die blassen Augen glänzten schwach. »Warum war Coventa überhaupt im Fluss?«
»Weil du uns angewiesen hast, das Holz herauszuholen, das seinen Lauf blockiert hat!«, gab Boudicca zurück.
»In der Tat. Darüber haben die Hohepriesterin und ich uns bereits unterhalten. Dass ihr überhaupt dort wart, erfolgte auf mein Geheiß, und ich hätte dabeibleiben sollen, um euch zu beaufsichtigen.«
»Aber wir kamen sehr gut zurecht …«
»War ja auch gut gedacht«, gab Lhiannon zu. »Aber mit einem klapprigen Schwert kann selbst der größte Krieger nicht gut kämpfen.«
Boudicca legte die Stirn in Falten, sah vor ihrem geistigen Auge die kleine Gestalt des jüngeren Mädchens. »Sie war zu klein …«, sagte sie schließlich.
»Sie war der Aufgabe, die du ihr zugeteilt hast, nicht gewachsen, und allesamt habt ihr viel zu schwer und viel zu lange gearbeitet. Ich vermute mal, dass du bisher nicht viel mit anderen Kindern zu tun hattest – das stimmt doch, oder nicht?« Und als Boudicca nickte, fuhr sie fort. »Du stammst von den Belgen ab, einem hochgewachsenen, kräftigen Volk, und du selbst bist weit stärker als die meisten Mädchen deines Alters. Du musst lernen, die anderen so zu sehen, wie sie sind, nicht so, wie du sie gern hättest. Du hast dich zu ihrer Führerin gemacht, und deshalb oblag dir die Verantwortung für die anderen.«
»König Cunobelin übertrug jedem eine verantwortungsvolle Aufgabe«, sagte Boudicca. »Jeder diente seinen Zwecken mit einer Aufgabe, die seiner Fähigkeit entsprach. Aber ich bin bloß ein junges Mädchen – ich hätte nie gedacht …«
»Glaubst du, dass du keine Macht hast, nur weil du eine Frau bist? Man sagt, dass die Römer anders denken als wir, aber wir Druiden wissen, dass die Göttin der Quell der Macht ist, welche durch die Königinnen und Priesterinnen den Männern verliehen wird. Du stammst aus einer langen Ahnenlinie von Stammesführern ab. Von daher überrascht es mich nicht, wenn dir die anderen Mädchen gehorchen.«
Boudicca sträubte sich innerlich gegen diesen Ton. Was wusste diese Frau schon von den Gepflogenheiten der Könige? Aber sie hatte nicht ganz unrecht – Boudicca war von klein auf immer irgendwem unterworfen gewesen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass auch sie Macht haben könnte.
»Ich verstehe«, sagte sie langsam.
»Na, dann ist ja gut. Dann war dieser Tag wenigstens nicht ganz umsonst«, sagte Lhiannon heiter. »Komm jetzt mit, damit du etwas Warmes in den Bauch bekommst, und wenn du willst, gehen wir anschließend Coventa besuchen. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen, dass es ihr besser geht.«
In der Woche, nachdem Coventa beinahe ertrunken war, gab es einen letzten Regensturm, der rauschende Wassermassen durch das freigeräumte Flussbett goss. Dann wurde es wärmer, als ob der inzwischen milde gestimmte Flussgeist den Frühling gebracht hätte. In der Neumondnacht fand Lhiannon endlich Gelegenheit, mit Ardanos zu sprechen.
Als sie durch die Wälder Richtung Hain gingen, verlangsamte er seinen sonst so forschen Schritt, sodass sie mitkam. Er war kaum größer als sie, von eher drahtiger als muskulöser Statur, aber er hatte eine natürliche Autorität, und andere Männer achteten ihn. Leise pfiff und sang er vor sich hin. Sie errötete, als sie erkannte, dass es ein Lied war, das er für sie geschrieben hatte:
Meine Liebe brennt für ein Mädchen mit Haar
wie der güldene Flachs,
mit Augen wie der sommerblaue Himmel,
vor dem das Schilfrohr sich neidvoll niederneigt,
so wiegend ihr Gang,
und die schwankenden Weiden seufzen …
Er lachte, als er ihre Reaktion sah. »Wie macht sich denn unsere Icener-Prinzessin?«, fragte er.
»Ich fürchte, sie ist sich ganz schön bewusst, dass sie eine Prinzessin ist«, antwortete Lhiannon und senkte die Stimme, als eine Gruppe junger Priester an ihnen vorbeikam, die wehenden Roben ein fahler, verschwommener Fleck in der Abenddämmerung. »Aber sie ist eine natürliche Führungsperson. Sie könnte das Zeug zur Priesterin haben, wenn sie Bescheidenheit und Demut lernt.«
»Na ja, da ist sie nicht die Erste, die das noch lernen muss …«, erwiderte Ardanos.
Lhiannon folgte seinem Blick. Vor langer Zeit
Weitere Kostenlose Bücher