Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
hat, wurde ich dafür bestraft. Er sagte, das seien heidnische Gedanken und überredete Mutter, mich in die Kammer zu sperren. Was ist heidnisch, Tante?«
»Alles, was einem Christenpriester nicht gefällt«, erklärte Morgaine. »Vater Griffin ist ein Dummkopf. Kein guter Kirchenmann quält ein kleines Kind wie dich, das keine Sünden begeht, mit Reden über Sünde. Es ist noch genug Zeit, darüber zu reden, Nimue, wenn du Sünden begehen oder dich zwischen gut und böse entscheiden kannst.«
Folgsam stieg Nimue wieder auf ihr Pony. Aber plötzlich sagte sie: »Tante Morgaine… aber ich bin doch kein so gutes Mädchen. Ich sündige die ganze Zeit. Ich tue immer böse Dinge. Es überrascht mich überhaupt nicht, daß Mutter mich weggeschickt hat. Ich bin überhaupt kein gutes Mädchen. Sie schickt mich an einen bösen Ort, weil ich ein böses Mädchen bin.«
Morgaine blieb vor Verzweiflung die Luft weg. Sie war gerade im Begriff, auf ihr Pferd zu steigen. Nun lief sie zu Nimues Pony und umarmte das Mädchen. Sie drückte Nimue fest an sich, küßte und küßte sie immer wieder. Fassungslos sagte sie: »Sag das nie mehr, Nimue! Nimue, es ist nicht wahr! Ich schwöre dir, es ist nicht wahr! Deine Mutter wollte dich überhaupt nicht wegschicken. Wenn Avalon für sie ein böser Ort wäre, hätte sie dich mir nie mitgegeben!«
Nimue erkundigte sich schüchtern: »Und warum werde ich dann weggeschickt?«
Morgaine hielt sie noch immer in den Armen. »Weil du noch vor deiner Geburt Avalon versprochen wurdest. Deine Großmutter war eine große Priesterin. Ich habe keine Tochter, um sie der Göttin zu schenken. Du gehst nach Avalon, damit du die weisen Lehren lernst und der Großen Mutter dienst.« Morgaine bemerkte, daß sie weinte. Ihre Tränen fielen auf Nimues helles Haar. »Wer hat dir gesagt, es sei eine Strafe?«
»Eine der Frauen… während sie mein Unterkleid einpackte…«, Nimue sprach kläglich weiter. »Ich habe gehört, wie sie sagte, Mutter dürfe mich nicht an diesen bösen Ort schicken. Und Vater Griffin hat mir oft genug gesagt, ich sei ein böses Mädchen…«
Morgaine setzte sich, nahm die Kleine auf den Schoß und wiegte Nimue. »Nein, nein«, sagte sie sanft. »Nein, mein Liebes. Du bist ein gutes Mädchen. Wenn du frech, faul oder ungehorsam bist, ist das keine Sünde. Du bist nur nicht alt genug, um es besser zu wissen. Und wenn man dich lehrt, das Richtige zu tun, dann wirst du es tun.«
Sie dachte, das Gespräch sei für ein so kleines Mädchen zu schwierig geworden und sagte: »Sieh mal, ein Schmetterling! Einen so schönen Schmetterling habe ich noch nie gesehen. Ich will dich jetzt auf dein Pferdchen setzen«, fuhr sie fort und hörte aufmerksam zu, während das kleine Mädchen über Schmetterlinge redete. Allein hätte sie Avalon in einem Tag erreicht, aber Nimues Pony mit seinen kurzen Beinen schaffte das nicht, und so übernachteten sie auf einer Lichtung.
Nimue hatte noch nie zuvor im Freien geschlafen. Sie fürchtete sich in der Dunkelheit, nachdem sie das Feuer ausgetreten hatten. Deshalb nahm Morgaine sie in die Arme und zeigte ihr einen Stern nach dem anderen. Das Mädchen war müde vom Reiten und schlief bald ein. Aber Morgaine lag wach. Nimues Kopf lag schwer auf ihrem Arm, und langsam beschlich sie Furcht. Sie war so lange nicht in Avalon gewesen. Schritt um Schritt hatte sie langsam ihre einstige Ausbildung wiederholt, oder das, woran sie sich erinnerte. Hatte sie vielleicht etwas Wichtiges vergessen?
Endlich schlief Morgaine ein. Aber noch vor dem Morgengrauen schien sie Schritte auf der Lichtung zu hören. Raven stand vor ihr. Sie trug das dunkle Gewand und die Tunika aus geflecktem Hirschfell und sprach: »Morgaine! Liebste Morgaine!« Ihre Stimme, die Morgaine nur einmal in all der Zeit in Avalon gehört hatte, bebte so vor Staunen, Freude und Verwunderung, daß Morgaine plötzlich aufwachte. Sie erwartete fast, Raven zu sehen, als sie suchend über die Lichtung blickte. Aber der Platz war leer. Nur ein schmaler Nebelstreif verdeckte die Sterne. Morgaine legte sich wieder nieder und wußte nicht, ob sie geträumt, oder ob Raven mit dem Gesicht ihr Kommen vorausgesehen hatte. Ihr Herz schlug heftig; sie spürte sein wildes Klopfen fast schmerzhaft in ihrer Brust.
Ich hätte nie so lange wegbleiben dürfen. Nach Vivianes Tod hätte ich versuchen müssen zurückzukehren, selbst unter der Gefahr für mein Leben… werden sie mich wohl aufnehmen? Ich bin alt, verbraucht und
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