Avalons Geisterschiff
zu erkennen. Der Schatten des gespannten Segels verstärkte die Dunkelheit an Bord noch.
Erste Stimmen erreichten ihre Ohren. Sie hörte das ferne Rufen, ein Schreien der unsichtbaren Besatzung, aber es gelang ihr nicht, die Laute zu lokalisieren. Das Schreien war einfach überall. Es hallte jetzt über das Deck. Da wurden Befehle geschrien, und Carlotta wurde es allmählich unheimlich. Sie verließ ihren Platz, weil sie sich umschauen wollte. Sie glaubte nicht daran, dass sie sich die Stimmen einbildete.
Die Veränderungen ließen sie staunen. Auf dem Deck sah sie plötzlich schemenhafte Gestalten wie graue Nebelwesen. Sie huschten durch die Dunkelheit, begleitet vom Klang ungewöhnlicher Stimmen, die leise waren und zugleich in ihren Ohren schrillten. Manchmal kreischten sie, zwischendurch war auch ein Lachen zu hören. Auf und unter Deck schienen sich Geister auszutoben.
Carlotta entging die Veränderung der Atmosphäre nicht. Manchmal, wenn Gestalten in ihrer Nähe erschienen, hatte sie den Eindruck, körperlich berührt zu werden. Hin und wieder ein sachtes Streicheln oder Streifen, mal ein geflüstertes Wort oder auch ein Zischen, und immer wieder verfolgte sie die ungewöhnlichen Bewegungen der Gestalten mit scharfen Blicken.
Das Vogelmädchen wartete darauf, dass etwas geschah, obwohl bereits eine Veränderung stattgefunden hatte. Doch irgendwie war ihr das zu wenig. Da musste noch etwas kommen, und darauf wartete sie voller Spannung. Sie wusste auch nicht, ob man sie bereits entdeckt hatte. Sollte dies so sein, war man ihr nicht feindlich gesonnen, denn sie war nicht angegriffen worden.
Wo steckten sie?
Carlotta war stets bereit, die Flucht anzutreten. Auf der anderen Seite wollte sie aber wissen, was los war, und blieb deshalb auf der Stelle stehen.
Innerhalb der Dunkelheit baute sich die Szenerie immer klarer und durchsichtiger auf. Menschen waren zu sehen. Oder ihre schwachen Umrisse, die grünlich schimmerten und ein leichtes Leuchten abgaben. Dieses Leuchten machte die Gestalten sichtbar, und so konnte Carlotta sehen, dass sie sich über das Deck bewegten.
Bisher hatte sie nicht genau darüber nachgedacht. Nun aber kam ihr der Begriff Geister in den Sinn. Ja, zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie mit Geistern konfrontiert. Bisher hatte sie nur davon gehört. Jetzt waren sie da. Sie schienen sich aus der Sphäre des Unsichtbaren gelöst zu haben, um in die Welt der Menschen zu gelangen. Dort wollten sie ihre Zeichen setzen und da weitermachen, wo sie als Menschen aufgehört hatten zu existieren. Carlotta ging davon aus, dass diese Wesen früher einmal einen menschlichen Körper gehabt hatten.
Sie bewegten sich über das Deck. Sie schrien sich gegenseitig etwas zu, aber ihre Stimmen klangen anders als die normaler Menschen. Zwar waren sie nah, aber trotzdem so fern, als würden sie nach jedem Ruf augenblicklich verklingen.
Carlotta hatte sich einen günstigen Platz ausgesucht. Neben der hohen Reling stand sie, und sie nahm dabei den Geruch von altem Holz wahr. Aber da war noch ein anderer, den sie erst nach einigen Minuten identifizieren konnte.
Zum Glück kannte sie den Geruch. Sie hatte ihn auf ihren Flügen über das Wasser wahrgenommen.
So roch das Meer!
Also war das alte Segelschiff über das Meer gefahren und hatte das Aroma des Salzwassers in sich aufgenommen, das jetzt allmählich verdunstete. Es konnte vielleicht aus einem geheimnisvollen Hafen ausgelaufen sein, um hier anzulegen.
Bestimmt nicht auf eine normale Art und Weise. Zwar roch es nach der See, aber Carlotta glaubte nicht, dass das Segelschiff auch normal über das Wasser gekommen war. Sie hätte es sehen und hören müssen.
Dafür hörte sie jetzt etwas!
Deutliche Trittgeräusche. Sie spürte im nächsten Augenblick den kalten Hauch, der über ihren Körper streifte – und riss die Augen weit auf.
Vor ihr stand jemand.
Und er sah nicht so aus, als wollte er ihr Freund werden...
***
Es war ein Mann.
Sie fragte sich, ob sie es mit einem Geist oder mit einem normalen Menschen zu tun hatte. Eine Antwort darauf wusste sie nicht. Möglicherweise war er eine Mischung aus beidem.
Wild sah er aus, auch verwegen. Ein dunkler Bart, ein scharf geschnittenes Gesicht, und er war mit einem Säbel bewaffnet, dessen lange Klinge leicht gekrümmt war.
Mit solchen Dingern waren den Menschen früher die Köpfe abgeschlagen worden. Carlotta befürchtete, dass ihr dieses Schicksal auch bevorstand, aber der Fremde tat noch
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