Ein König für San Rinaldi
1. KAPITEL
Venedig
Natalia Carini liebte ihr Heimatland über alles, aber Venedig nahm einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen ein. Das wurde ihr bewusst, während sie vergeblich versuchte, die dichten dunklen Locken festzuhalten. Der Wind wehte stark. Am sonnenbeschienenen Ufer wartete sie auf das Wassertaxi.
Die bewundernden Blicke der Männer bemerkte sie kaum. Ein Mann blieb sogar stehen und sagte leise: „ Bella, bella . “
Obwohl er sie geradezu unverschämt musterte, musste sie lachen. Ihre blauen Augen blitzten fröhlich auf. Es tat gut, wenigstens kurz aus der ernsten Stimmung gerissen zu werden. In schlaflosen Nächten fragte Natalia sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen oder einen gewaltigen Fehler begangen hatte. Warum war sie überhaupt auf den verrückten Plan des Königs eingegangen?
Das Wassertaxi legte an. Ohne länger zu grübeln, griff sie nach der Reisetasche und stieg ins Boot. Dabei ließ Natalia sich vom Fahrer stützen. Sonst hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren. Mit fast einsachtzig war sie für eine Frau ziemlich groß und legte viel Wert auf eine gute Körperhaltung.
„Via Veneti, Hotel Buchesetti“, rief sie dem Fahrer zu.
„ Si, subito“, erwiderte der Mann und ließ den Blick fasziniert über sie gleiten. Allerdings benahm er sich dezenter als der Mann am Pier.
Während der Fahrt über das glitzernde Wasser der Lagune und die Kanäle dachte Natalia gründlich über die Veränderungen in ihrem Leben nach. Vor allem das Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten, bereitete ihr Unbehagen.
Morgens beim Aufwachen beschlich sie das Gefühl, einen Zug bestiegen zu haben, der ständig an Geschwindigkeit zulegte und sich nicht mehr anhalten ließ. Weshalb hatte sie sich auf diesen Plan eingelassen? Schließlich war sie von niemandem gezwungen oder unter Druck gesetzt worden.
Nein, das war nicht richtig. Wenn der Herrscher ihres Heimatlandes, das sie liebte, sie um Hilfe bat und erklärte, die Zukunft von San Rinaldi läge in ihren Händen – da hatte Natalia sich nicht einfach umdrehen und weggehen können. Schließlich war sie eine Carini, und die Carinis kannten ihre Pflichten.
Das Problem dabei war nur, dass ihr inzwischen Bedenken gekommen waren. Seit sie dem Plan zugestimmt hatte, fielen ihr täglich neue Gegenargumente ein.
„Via Veneti.“ Der Fahrer des Wassertaxis riss sie aus ihren Überlegungen. „Wir kommen gleich zum Hotel. Es ist sehr schön. Waren Sie schon einmal da?“
„Ja“, erwiderte sie und ärgerte sich darüber, dass ihre Antwort so knapp ausfiel. Natalia hätte ihn unter anderen Umständen nicht so abgefertigt. Das konnte sie ihm jedoch nicht begreiflich machen. Dafür hätte sie ihm erzählen müssen, dass sie gezwungen wurde, ihr geliebtes Wellnesshotel auf San Rinaldi zu verkaufen. Dieser Verlust bedrückte sie mehr, als sie erwartet hatte.
Wenigstens durfte sie selbst entscheiden, an wen sie verkaufte. Maya und Howard, die neuen Besitzer, würden den hohen Standard des Hotels aufrechterhalten. Das zu wissen tröstete Natalia nur wenig. Sie trauerte um ihr geliebtes Hotel.
Warum hatte sie es aufgegeben? Warum war sie damit einverstanden, auf jenes Leben zu verzichten, das sie sich unter großen Mühen aufgebaut hatte? Stattdessen ging sie nun eine arrangierte Vernunftehe ein. Weil es im Interesse des Staates lag. Oder weil sie Prinzessin werden wollte?
Beinahe hätte Natalia laut gelacht. Stattdessen lächelte sie bloß und zog damit erneut die Blicke des Fahrers an. Rasch wandte sie sich ab.
Mit neunundzwanzig war sie sich ihrer Wirkung auf Männer voll bewusst. Seit Jahren reagierten sie schmeichelhaft auf Natalias Aussehen. Daran war sie gewöhnt, aber verliebt hatte sie sich nie richtig. Nun würde sie bald den neuen Thronerben von San Rinaldi heiraten. Dann standen ihre Chancen schlecht, sich jemals zu verlieben, oder?
Natalia machte sich nichts vor. Dem König ging es nur darum, durch die arrangierte Ehe zwischen zwei Fremden die Zukunft seines Reiches zu sichern. Dass aus einer solchen Verbindung eine echte leidenschaftliche Liebesbeziehung wurde, müsste schon an ein Wunder grenzen.
Nein, das war ausgeschlossen. Erst recht, weil Natalia sich bisher nie verliebt hatte. Außerdem stimmte sie dem Arrangement nur zu, weil sie ihr Heimatland liebte. Ihren Zukünftigen kannte sie ja nicht einmal. Und er war nicht an ihr, sondern am Thron von San Rinaldi interessiert.
Konnte das Ganze überhaupt funktionieren?
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