AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Herankommenden entgegen.
»Er nennt sich Jermyn, Eltern hat er keine, hat nie welche gekannt. Sechzehn, siebzehn Jahre ist er, vielleicht auch älter, der Hunger hat sich in sein Wesen eingefressen und ihn klein gehalten. Aber abgebrüht ist er wie ein Alter. Diebstahl, Einbrüche, Betrug – damit hat er sich durchgebracht und er muss geschickt sein. Immerhin lebt er und hat noch beide Hände. Sie machen mit Dieben in Dea kurzen Prozess. Aber seine Geisteskräfte ...«
Vater Dermot schüttelte den Kopf. »In einem Menschen wie ihm wird diese Gabe zu einer furchterregenden Bedrohung, wenn wir ihn nicht zähmen. Ich wollte ihn im Guten überreden, aber er hat sich geweigert, ganz gleich was ich sagte. Schließlich musste ich ihn zwingen.«
»Eine geistige Fessel?«
»Ja, er kann sich nicht aus meiner Blickweite entfernen. Dreihundert Meilen, Bruder, bei Tag und Nacht. Ich bin erschöpft.«
Während sie sprachen, war der Junge herangeschlendert. Die letzten Worte hatte er gehört. Er bleckte gelb verfärbte Zähne, hustete und spuckte aus. Der Speichel landete wenige Zoll vor den Füßen der Väter.
»Scheißstaub, Scheißweg.«
»Vielmehr hat er unterwegs nicht gesagt«, seufzte Vater Dermot.
Das zerrissene Schuhwerk war kreidig grau. Staub bedeckte die knochigen Glieder, Rinnsale von Schweiß hatten breite Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Ein füchsisches Gesicht unter verklebten, schmutzigen Zotteln, hager und verschlagen, mit stechenden, schwarzen Augen.
»Den Filz werden wir abschneiden müssen«, murmelte Vater Pindar. Der Junge starrte ihn an und öffnete den Mund.
»Oi, Alter ...«
Ein Pferd schnaubte und Zaumzeug klirrte leise. Jermyn sah auf. Ava hatte ihr Pferd gewendet und kam zurück. Abschätzend musterte er ihren reichen Aufzug – den schweren, nachtblauen Umhang über dem Reitkleid, die Stiefel aus geprägtem Leder, das silberne Haarnetz. Ava bemerkte ihn erst, als sie gerade über ihm war. Sie stutzte, die Stute tänzelte unruhig und die Blicke von Fürstentochter und Gassenjunge trafen sich.
Beide verharrten reglos, dann klapperten die Hufe von Vater Pindars Maultier die Straße zum Haus der Weisen hinab und Ava folgte ihm. Ihre grauen Augen waren klar wie ungetrübtes Wasser, die schwarzen des Jungen undurchdringlich wie die Nacht, die hinter den Bergen heraufzog.
»Jermyn!«
Der Junge hörte nicht, er drehte sich um und starrte zurück in die graugrüne Ebene, die in der Dämmerung versank. Der Vater zuckte die Schultern und ging weiter. Als er hinter einem Findling verschwand, fuhr Jermyn zusammen und setzte sich widerwillig in Bewegung.
Fünfzehn Tage später versammelte Vater Dermot alle Schüler im Garten des Kreuzganges. Nicht ganz ein Dutzend waren es diesmal und nur vier von ihnen würde eine besondere Schulung zuteil werden.
Der Bauer Quentin gehörte dazu, den die Dorfältesten ins Haus der Weisen geschickt hatten, um ihn zum Wettermeister auszubilden, und der junge Lord Donovan. Seine Ankunft hatte viel neugieriges Gerede hervorgerufen. Als Sohn und Erbe des Patriarchen von Dea reiste er mit großem Gefolge und obwohl die prächtig gekleideten Herren sich am nächsten Tag verabschiedet hatten, war etwas von ihrem Glanz zurückgeblieben.
Hochgewachsen und blond war Donovan ein stattlicher, junger Mann, doch schon nach wenigen Tagen glaubte niemand mehr, dass er jemals eine Stadt wie Dea regieren könnte. Er selbst am wenigsten, wie es schien.
Verstohlen sah der junge Edelmann in die Runde.
Es gab keinen äußeren Unterschied zwischen den Schülern. Jeder trug das Gewand der Grauen Brüder, Kittel, Hose und Leinenschuhe aus schlichtem, grauem Tuch, gegürtet mit einer weißen Kordel.
Vater Dermot erhob sich.
»Liebe Freunde, bevor ihr euch und eure Anliegen vorstellt, werde ich vom Haus der Weisen erzählen. Ihr seid hergekommen, um zu lernen, und wir werden euch unterrichten in allen Fähigkeiten, die man in der Welt haben muss. Heilwesen, Wetterkunde«, freundlich nickte er Quentin, einem kräftigen, jungen Mann zu, »Rechtssprechung und vieles mehr. Wie ihr wisst, ziehen von hier die Grauen Brüder in die Welt, um den Menschen mit ihrem Wissen zu dienen. Sie handeln selbstlos und unparteiisch, leben und arbeiten in Demut, ohne Weib und Kind, ohne Besitz ...«
Ein Prusten unterbrach ihn.
»Jermyn? Ist dir nicht wohl?«
»Selbstlos, ohne Besitz? Ich glaub, ich hab was an den Ohren!« Der Junge grinste hämisch, doch der Vater erwiderte
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