AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
schrecken, ohne Mühe hielt sie ihr Gleichgewicht und sah ihn herausfordernd an. Er konnte nicht mehr zurück, ohne sich lächerlich zu machen.
Nach der ersten Armlänge schaute er hinunter. Sie stand unter ihm auf dem Geländer, das blasse Oval ihres empor gewandten Gesichts schimmerte in der Dunkelheit. Unbehagen ergriff ihn. Er kannte die Vorsprünge und Mauerritzen, die sicheren Halt boten, sie nicht. Sie hatte behauptet, sie könne klettern, aber was hieß das schon? Doch wenn er jetzt abbrach, sah es aus, als ziehe er den Schwanz ein.
»Taste nach meinen Füßen«, zischte er, »leg die Hände in die Fugen, wenn ich weitergehe. Mach schnell!«
Sie nickte, dann spürte er ihre Finger an seinem Knöchel. Er machte einen Zug, einen weiteren und einen dritten. Sie atmete kurz und stoßweise, aber sie blieb ihm auf den Fersen. Langsam schoben sie sich die Mauer empor. Das Licht schwand, der Himmel bewölkte sich und sie mussten sich beeilen.
»Was für ein Wahnsinn«, dachte Jermyn. Was ihn zu dem verrückten Unternehmen angetrieben hatte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Er schwitzte trotz der nächtlichen Kühle. Hatte man keine Angst, wenn man jederzeit einen Wind rufen konnte, der einen auffing, wenn man stürzte?
Endlich hatte er das Geländer des oberen Balkons erreicht und schwang sich erleichtert darüber. Er beugte sich vor, um ihr zu helfen, aber sie kletterte schon auf den kleinen Vorbau.
»Uff, das war anstrengend«, keuchte sie .
Unterdessen war der Himmel ganz bedeckt. Jermyn sah nur Avas Umrisse, aber er spürte sie. Eng an die Wand gepresst, schob er sich an ihr vorbei, bis er in die Türöffnung treten konnte. So war ihm wohler.
»He, wo bist du? Wo gehst du hin?«
Sie klang atemlos und – ängstlich? Seine Überlegenheit kehrte zurück.
»Keine Angst, ich kann hier nicht weg, die Treppe ist ja hin und zum Klettern ist es zu dunkel«, erklärte er herablassend.
»Was du nicht sagst! Übrigens habe ich keine Angst«, kam es schnippisch zurück, »du hast es ja gesehen – ich klettere so gut wie du.«
Er wunderte sich erneut. Die Dunkelheit verbarg sie, es hätte ein ganz anderes Mädchen sein können als das wundersame Fräulein von Tillholde.
»Wie machst du es?«, entfuhr es ihm.
»Was? Klettern? So wie du, nehme ich an. Ich bin in unseren Bergen geklettert.«
»Ach, Quatsch. Wie kannst du Wind herbeiholen oder Regen. Wie machst du das?« Insgeheim ärgerte er sich. Warum zeigte er, dass ihn diese Frage beschäftigt hatte? Die Worte waren ihm herausgerutscht, er würde nur eine patzige Antwort bekommen. Aber er irrte sich.
»Ich kann alle Kräfte der Erde benutzen«, erwiderte sie langsam, »Wind, Regen und Unwetter. Leider kann ich nicht dem Mond befehlen zu scheinen, wenn es nicht an der Zeit ist. Sein Licht kommt von der Sonne, darüber hat die Erde keine Gewalt. Deshalb sitzen wir jetzt fest.«
Sie lachte bedauernd. Jermyn merkte, dass sein Mund offen stand und er schloss ihn schnell. Sie sagte das, als sei es die alltäglichste Sache der Welt.
»Warum? Woher hast du diese Macht?«
Die Väter rätselten über diese Frage, Jermyn hatte es in ihren Gedanken gelesen, bevor sie merkten, dass er in der Nähe war und sich vor ihm verschlossen hatten.
»Die Erdenmutter hat sie mir gegeben. Ich bin ihr wie eine Tochter, hat sie gesagt, und teile ihre Macht.«
»Ich träum ja wohl. Was für ein Schmonzes!«, dachte er und überraschte sich damit, dass er es nicht laut sagte.
»Und woher kennst du diese ... diese Erdenmutter?«
Ava antwortete nicht gleich, Jermyn hörte ein leises Rascheln, als sie sich setzte. Vorsichtig ließ er sich ebenfalls zu Boden gleiten.
Sie begann zu reden und während sie erzählte, wurde ihr Stimme weich und träumerisch, als habe sie seine Anwesenheit vergessen.
»Das Schloss meiner Familie ist Hunderte von Jahren alt, doch es steht auf den Fundamenten eines viel älteren Bauwerkes und darunter liegt ein Erdheiligtum aus dem Urbeginn der Menschen. So jedenfalls erzählen es meine Tanten. In der großen Halle, die fast nie benutzt wird – furchtbar kalt und zugig, weißt du – hängt ein riesiger, uralter Teppich. Man kann nicht mehr erkennen, was darauf dargestellt ist, aber meine Tanten haben immer darauf bestanden, dass er dort hängen bleibt.
Als ich acht Jahre alt war, habe ich mich beim Spielen dahinter versteckt und eine Tür entdeckt, eine kleine Pforte. Es gab keine Klinke, aber als ich dagegen drückte, ging sie auf. Ich stand in
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