AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Kunststückchen waren beeindruckend – alle sperrten Mund und Augen auf, wenn sie Windböen und Blitze herbeirief. Dabei schien sie nichts wirklich zu berühren, weder Bewunderung noch Ablehnung; sie war wie ein Kind, heiter und unbeschwert.
Er schnaubte. Eine eingebildete Gans war sie! Den Regenguss hatte er ihr nicht verziehen und auch nicht jenen Moment bei ihrer ersten Begegnung. Es war ihm durch und durch gegangen, als sie hoch zu Pferde mit ihren kühlen, grauen Augen auf ihn herabgeblickt und sich gleichgültig abgewendet hatte. Diesen Blick würde sie noch büßen!
Jermyn sprang aus dem Bett, zog sich an und kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Die wenigen Fuß bis zum Boden machten ihm keine Schwierigkeiten, von den Einbrüchen in Dea war er anderes gewohnt.
Wie es seine Art war, hatte er die neue Umgebung erforscht und sich die ganze Anlage vertraut gemacht. Es kitzelte seine Eitelkeit, den Vätern zuwider zu handeln und der baufällige Turm, vor dem Vater Dermot sie gewarnt hatte, war sein Schlupfwinkel geworden. Dort verkroch er sich, wenn er die anderen zu sehr gegen sich aufgebracht hatte oder die Wut ihn zu überwältigen drohte.
Eine enge Wendeltreppe mit ausgetretenen Stufen führte zum ersten Balkon, aber er kletterte außen an der Mauer empor, um nicht aus der Übung zu kommen.
Auch jetzt nahm er diesen Weg. Er kannte den Aufstieg so gut, dass er ihn auch bei ungewissem Licht wagte. Ein wenig atemlos schwang er sich über die Brüstung – und fuhr mit einem leisen Ausruf gegen das Geländer zurück.
In der leeren Türhöhle, die zur Treppe führte, stand eine dunkle Gestalt.
Auch Ava schlief nicht in dieser Nacht. Sie hatte sich gar nicht erst hingelegt, sondern saß angekleidet in der Fensternische und wartete ungeduldig darauf, dass die letzten Geräusche verstummten. Was sie vorhatte, war verboten, aber die Versuchung war zu groß und sie beruhigte sich damit, dass niemand davon erfahren würde.
Vor einiger Zeit hatte der Vollmond sie geweckt. Sie hatte keinen Schlaf mehr gefunden, war aufgestanden und ans Fenster getreten.
Im weißen Licht ragte der baufällige Turm hinter den zweistöckigen Schlafhäusern auf. Die Schüler kamen nie in seine Nähe, aber jetzt sah sie deutlich eine graue Gestalt an dem runden Gemäuer hängen. Einer Spinne gleich kroch sie an den Steinen bis zu dem Balkon hoch.
Aus der Entfernung hatte Ava den Kletterer nicht erkennen können, aber ihre Neugier war geweckt und sie konnte sich den Vorfall nicht aus dem Kopf schlagen.
Sie langweilte sich im Haus der Weisen, nachdem der Reiz des Neuen vergangen war. Ein Tag folgte dem anderen in immer gleicher Weise mit Übungen und Unterweisungen, Mahlzeiten und der knapp bemessenen freien Zeit. Gerade damit wusste sie nichts anzufangen. In Tillholde hatte sie überall Gesellschaft gefunden, in der Schlossküche, den Ställen und bei den Wachleuten. Hier sollten die Schüler nach dem Willen der Väter auch ihre freie Zeit zusammen verbringen. Der Umgang mit dem Gesinde wurde nicht gerne gesehen, allzu leicht konnten die besonderen Gaben der Schüler oder ihre hohe Stellung Neid und Ärger erregen.
Die Wirtschaftsgebäude waren ihr also verschlossen und an ihren Gefährten hatte sie keine rechte Freude. Quentin war freundlich, aber er betrieb das Studium der Wetterkunde mit heiligem Ernst und sehnte sich immerzu nach seinem heimatlichen Dorf. Oft wirkte er abwesend, als weile er in Gedanken dort.
Jermyn hielt sich abseits, bis die Väter ihn zwangen, sich zu ihnen zu gesellen. Aber er war entweder mürrisch oder boshaft und alle fühlten sich unbehaglich unter den undurchdringlichen, schwarzen Augen. Wenn er den Mund aufmachte, kam Hohn und Spott heraus, die einzigen Gefühlsregungen, die er zeigte und oft war Donovan Zielscheibe böser Witze. Der arme Kerl hatte nie eine schlagfertige Antwort bereit, stammelte hilflos unverständliche Worte und errötete wie ein Mädchen. Jermyns Sticheleien waren äußerst treffend und nicht selten musste Ava sich das Lachen verbeißen. Aber sie bereute den Regenguss nicht, zu dem sie ihm verholfen hatte.
Manchmal tat er ihr leid. Die anderen Schüler mieden ihn, mehr als einmal waren sie aufgestanden und weggegangen, wenn er missmutig heranschlenderte. Sie musste ihm alle Botschaften der Väter ausrichten – Quentin und Donovan hätten sich eher die Zunge abgebissen, als mit ihm zu sprechen. Darüber hinaus hatte sie nie ein Wort mit ihm gewechselt, er blickte sie ebenso
Weitere Kostenlose Bücher