Azathoth - Vermischte Schriften
Zeit entfernt hatte. Ich setzte mich auf einen der Quersitze des Fahrzeugs. Bald hörte ich in dem spärlichen Gras zur Linken ein Schwirren und sah die dunklen Gestalten zweier Menschen im Mondlicht aufragen. Sie trugen die Uniformmützen einer Eisenbahngesellschaft, es handelte sich zweifellos um den Fahrer und den Schaffner. Dann schnüffelte einer von ihnen auffallend heftig und wandte sein Gesicht dem Mond zu, um ihn anzuheulen. Der andere ließ sich auf alle viere nieder und lief auf den Wagen zu.
Ich sprang sofort auf, stürzte wie verrückt aus dem Wagen und rannte über endlose Meilen des Plateaus, bis ich vor Erschöpfung nicht weiterkonnte - und zwar nicht deswegen, weil sich der Schaffner auf alle Viere niedergelassen hatte, sondern weil das Gesicht des Wagenführers lediglich ein weißer Kegel war, der in einem blutroten Saugarm auslief.Ich wußte natürlich, daß ich nur träumte, aber dieses Wissen war keineswegs angenehm.
Seit jener furchtbaren Nacht bete ich nur, ich möge erwachen
- ich bin aber nicht erwacht!
Vielmehr stelle ich fest, daß ich ein Bewohner dieser entsetzlichen Traumwelt bin! Die erste Nacht wich der Morgenröte, und ich schlenderte ziellos durch die einsame Sumpflandschaft. Als die Nacht hereinbrach, wanderte ich noch immer umher, in der Hoffnung, wach zu werden. Plötzlich jedoch teilte ich das Schilf und erblickte vor mir einen uralten Eisenbahnwaggon - und auf einer Seite ein kegelgesichtiges Wesen, das den Kopf hob und seltsam in dem herabfließenden Mondlicht heulte.
Tag für Tag war es dasselbe. Jede Nacht führte mich wieder an jenen Schreckensort. Ich habe versucht, mich bei Anbruch der Nacht nicht zu bewegen, aber ich muß wohl schlafwandeln, denn ich erwache stets, sowie das Schreckenswesen vor mir im bleichen Mondschein heult, und ich drehe mich um und fliehe wie von Sinnen.
Guter Gott! Wann werde ich erwachen? Das ist es, was Morgan niederschrieb! Ich würde schon in die College Street 66
in Providence gehen, aber ich fürchte das, was ich dort vielleicht vorfinde.
(1934)
Das uralte Volk
Providence, 2. November 1927 Lieber Melmoth:
... Du beschäftigst Dich also damit, in die Zwielichte Vergangenheit dieses unausstehlichen jungen Asiaten Varius Avitus Bassianus einzudringen? Ach! Es gibt nur wenige Personen, die ich mehr verabscheue als diese verfluchte kleine syrische Ratte!
Mich hat kürzlich die Lektüre von James Rhoades' Aeneis1 in die Zeit der Römer zurückgeführt, eine Übersetzung, die ich zuvor nie gelesen hatte und die P. Maro gerechter wird als jede andere Fassung, die ich kenne - darunter die meines verstorbenen Onkels Dr. Clark, die unveröffentlicht ist. Dieser Vergilische Zeitvertreib, im Verein mit den gespenstis chen
Gedanken, die mit dem Vorabend von Allerheiligen mit seinen Hexensabbaten auf den Hügeln zusammenhängen, rief in mir letzte Montagnacht einen römischen Traum von solch übernatürlicher Klarheit und Lebendigkeit und solch titanischen Andeutungen verborgenen Grauens hervor, daß ich wahrhaft glaube, ich werde mich seiner eines Tages in meiner erzählenden Prosa bedienen. Träume von Rom waren in meiner Jugend nichts Ungewöhnliches - ich pflegte dem göttlichen Julius als ein Tribunus Militum der Nacht durch ganz Gallien zu folgen -, aber seit langem hatte ich keinen Traum von solch außerordentlich beeindruckender Kraft mehr gehabt.
Es war ein flammender Sonnenuntergang oder
Spätnachmittag in dem winzigen Provinzstädtchen Pompelo, am Fuß der Pyrenäen im spanischen Citerior.2 Es muß in einem 1 Rhoades' Übersetzung von Vergils Epos ist gereimt und wurde erstmals um die Jahrhundertwende veröffentlicht.
2 Das weist darauf hin, daß die Stadt ungefähr nordwestlich vom heutigen Barcelona lag.
späten Jahr der Republik3 gewesen sein, denn die Provinz wurde noch immer von einem Prokonsul des Senats und nicht von einem prätorianischen Unterfeldherrn des Augustus regiert, und der Tag war der erste vor den Kaienden des November.4 Die Berge erhoben sich scharlachrot und golden im Norden der Kleinstadt, und die nach Westen eilende Sonne schien rötlich und mystisch auf die rohen neuen, aus Stein und Mörtel zusammengefügten Gebäude des staubigen Forums herab und auf die Holzwände des in einiger Entfernung weiter östlich gelegenen Zirkus. Gruppen von Bürgern - breitstirnige römische Kolonisten und grobhaarige romanisierte Einheimische neben offenkundigen Kreuzungen beider Rassen, alle gleichermaßen in billige
Weitere Kostenlose Bücher