AZRAEL
eine sonderbare Weise an. Er antwortete nicht, sondern warf einen Blick in den Rückspiegel, setzte trotz der vollkommen leeren Straßen den Blinker und bog auf den Bahnhofsvorplatz ein.
Sein vorbildliches Verhalten als Autofahrer hörte dann aber auch schon auf. Er parkte nicht nur direkt vor dem Haupteingang, sondern machte sich einen Spaß daraus, den Wagen zweimal vor und zurück zu setzen, um auch ganz genau unter dem Halteverbotsschild zum Stehen zu kommen. Erst dann drehte er den Zündschlüssel herum, lehnte sich im Sitz zurück und fragte: »Hassen Sie Ihren Vater?«
Mark mußte tatsächlich einen Moment über diese Frage nachdenken. Es war nicht das erste Mal. Er hatte sich schon oft selbst gefragt, ob er seinen Vater tatsächlich haßte aber er hatte bisher noch nicht wirklich eine Antwort auf diese Frage gefunden, und vielleicht wollte er das auch gar nicht. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht. Damals, als... als das mit meiner Mutter geschah und er mich hierhergebracht hat, da habe ich geglaubt, daß ich ihn hasse. Aber das stimmte nicht. Ich liebe ihn nicht besonders.«
Prein sah ihn an, als wäre dies schlimmer, als hätte er seine Frage mit einem klaren Ja beantwortet. »Wie geht es Ihrer Mutter?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte Mark. »Ich habe seit mehr als einem halben Jahr nichts mehr von ihr gehört. Aber ich werde sie besuchen, gleich morgen.«
»Das sollten Sie auch«, sagte Prein. »Und vielleicht sollten Sie sich Gedanken über Ihre Zukunft machen. Ich meine, haben Sie sich je überlegt, wie sie aussehen soll?«
»Nein«, gestand Mark. »Aber ich weiß ziemlich genau, wie sie nicht aussehen wird. Ich werde nicht hierbleiben.«
»Sie können jederzeit zurückkommen«, versicherte Prein.
»Und warum sollte ich das?« wollte Mark wissen. »Warum erst weggehen, um dann wiederzukommen?«
»Weil man sich oft an einem Ort wohler fühlt, zu dem man zurückkehrt « antwortete Prein mit großem Ernst. »Es sind noch anderthalb Jahre bis zum Abitur. So lange ist das nicht. Es gibt bessere Schulen als unsere, das ist mir klar. Aber es gibt auch eine Menge schlechterer. Überlegen Sie es sich. Es ist immerhin eine Alternative. Bleiben Sie einfach ein, zwei Wochen bei Ihrem Vater, und danach kommen Sie zurück, wenn Sie wollen.«
»Und dann?« fragte Mark. Spätestens jetzt sollte er wütend auf Prein werden, denn nach all diesen semantischen Kopfständen ging er nun ziemlich plump vor. Er hatte versucht, sich anzuschleichen, und es war ihm gelungen. Aber offensichtlich wollte er nun die letzten Meter im Sturmangriff zurücklegen.
»Das wird sich zeigen«, sagte Prein. »Ein Studium, nehme ich an. Ich habe mit Ihrem Vater schon vor einer ganzen Weile darüber geredet. Er ist ein sehr eigenwilliger Mensch, und er wird es Ihnen sicher nicht leichtmachen. Aber glauben Sie mir: Sie werden bestimmen, wie es weitergeht, nicht er.«
»Das tue ich doch bereits.«
»Nein«, widersprach Prein. »Was Sie gerade machen, ist etwas anderes. Sie haben endlich die Schlüssel zu Ihrem A b teil bekommen, und jetzt reißen Sie die Tür auf und springen blindlings hinaus. Es ist nicht ganz ungefährlich, von einem fahrenden Zug zu springen. Man kann ziemlich hart landen.«
»Ich weiß«, sagte Mark. »Aber ich glaube, er fährt in eine Richtung, die mir nicht gefällt. Ich kann nicht warten, bis er von selbst anhält.«
»Dann ändern Sie seine Richtung«, antwortete Prein. » Sie können jetzt die Weichen stellen. Aber das geht nicht mit Gewalt. Sie wollen weg? Dann reden Sie mit Ihrem Vater, damit er Sie gehen läßt. Auf eine andere Schule meinetwegen. Obwohl ich es bedauern würde. Vielleicht in eine andere Stadt - eine, die Sie aussuchen.«
»Ja«, sagte Mark. »Und irgendwann einmal werden wir uns wiedersehen, und ich werde älter und viel vernünftiger geworden sein und meinen Doktor gemacht haben, damit ich als zukünftiger Chef der Sillmann-Werke auch vorzeigbar bin, und wir werden gemeinsam darüber lachen, wie dumm ich doch damals war. Nein, danke.« Seine Stimme wurde bitter. »Sie sind auch nicht anders als er.«
»Was ist so schlecht daran, vernünftig zu sein?« wollte Prein wissen.
»Nichts, sobald man sich darüber verständigt hat, was man unter dem Begriff vernünftig versteht.«
»Ich denke, so sehr unterscheiden sich unsere Auffassun gen da gar nicht«, erwiderte Prein. »Denken Sie über meinen Vorschlag nach. Ich gebe Ihnen offiziell zwei Wochen frei vom
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