AZRAEL
seine Sinne und Wahrnehmungen arbeiteten mit tausendfacher Schärfe, während alles rings um ihn herum plötzlich nahezu erstarrt schien. Er hörte Beate schreien und sah, wie sie sich ebenso verzweifelt Wie hilflos gegen den Griff des Mannes wehrte, der sie gepackt hatte und zum Wagen zerrte. Er erkannte ihn jetzt - es war der Betrunkene aus dem HADES. Aber er wirkte plötzlich gar nicht mehr betrunken, und das war er auch nie gewesen. Sein Angriff auf Beate und ihn hatte den einzigen Zweck verfolgt sie ins Freie zu locken, damit die Falle zuschnappen konnte, und ebenso, wie er das begriff, wurde ihm auch plötzlich klar, wer diese Männer wirklich waren - sein Vater hatte sie geschickt: irgendwelche billigen Privatdetektive oder bezahlte Schläger, die ihn schon den ganzen Tag über beobachtet hatten. Vermutlich hatte er über jeden seiner Schritte Bescheid gewußt, seit er das Haus verlassen hatte.
Der Gedanke löschte auch noch den letzten Rest von Selbstbeherrschung in ihm aus. Mit einem gellenden Wutschrei stürzte er sich auf den zweiten Angreifer, der ihn geschlagen hatte, nahm einen weiteren, noch härteren Hieb hin und schlug zurück, noch während der Schmerz in seinem Gesicht explodierte. Der Bursche stolperte zurück, aber es war wie vorhin in der Diskothek: Er war viel mehr überrascht als wirklich getroffen, und er erholte sich sehr viel schneller, als Mark glaubte. Als er erneut zuschlagen wollte, duckte er sich mit fast spielerischer Leichtigkeit unter seinem Hieb weg und versetzte ihm gleichzeitig einen Schlag in den Leib, der Mark nach Luft schnappend zusammenbrechen ließ. Er hatte vielleicht den Zorn eines wütenden Gottes, aber nicht dessen Kraft.
Irgendwie gelang es ihm, wieder hochzukommen, aber das war auch alles. Beate schrie noch immer und wehrte sich verzweifelt, Sie schlug und trat mit aller Gewalt um sich, aber der Kerl hatte sie so geschickt gepackt, daß sie nicht traf. Beinahe mühelos zerrte er sie zum Wagen und stieß sie grob auf die Rückbank. »Verdammt, worauf wartest du?« brüllte er, »Bring den Jungen!«
Die Worte galten dem Burschen, der Mark angegriffen hatte. Er reagierte, aber nicht sofort, und auch völlig anders, als Mark erwartet hatte. Mark war jetzt völlig wehrlos. Er stand einfach da, und alle Kraft, die er überhaupt noch aufbringen konnte, reichte gerade aus, um sich auf den Beinen zu halten, nicht einmal, um wirklich klar zu sehen. Trotzdem zögerte der Mann, ihn zu packen. Er hatte die Hände nach ihm ausgestreckt, aber irgend etwas.. hielt ihn zurück.
Angst.
Mark sah mühsam auf und blickte in sein Gesicht, und was er in seinen Augen las, das war das tiefste Entsetzen, das er jemals im Blick eines Menschen gesehen hatte, ein Gefühl, wie es nur das absolute Grauen hervorrufen konnte, eine Angst, die stark genug war, zu töten.
Angst vor ihm.
Vor dem Ding in ihm.
Es war noch da. Die namenlose, schwarze Kraft, die er aus seinen Träumen mitgebracht hatte, sie war da, und jetzt war sie real, und der andere konnte sie sehen. Mark wußte nicht, was er sah - sicher etwas ganz anderes als das, was er erblickt hatte während seiner Visionen -, aber was immer es war, es war mehr, als er ertragen konnte. Vielleicht mehr, als irgendein Mensch ertragen konnte. Seine Hände blieben weiter wie in einer grotesken Pantomime nach Mark ausgestreckt, aber er wich trotzdem vor ihm zurück, taumelte einen, zwei, drei Schritte rückwärts, bis er gegen den Wagen stieß, und begann zu schreien.
Und endlich begriff Mark seine Chance.
Plötzlich hatte er keine Angst mehr. Es war niemals nötig gewesen, Angst zu haben. Die schwarze Kreatur in ihm war nie sein Feind gewesen.
»Laßt sie los!« sagte er. »Laßt sie sofort los!«
Etwas von der Kraft des Alptraumungeheuers floß in seinen Körper. Nicht viel, aber doch genug, daß er sich von der Wand abstoßen und auf den Wagen zugehen konnte. Der Kerl, der ihn angegriffen hatte, schrie noch immer. Sein Gesicht war zu einer unmenschlichen Grimasse verzerrt, und seine Schreie glichen eher dem Brüllen eines gequälten Tieres. Im gleichen Moment sah auch der Mann hinter dem Steuer des BMW auf, und als er in Marks Gesicht blickte, begann auch er zu schreien. Mark machte einen weiteren Schritt. Er hatte keine Angst mehr. Weder vor seinen Träumen noch vor diesen Männern, die sein Vater geschickt hatte. Angst? Wovor? Es gab nichts auf der Welt, was er fürchten mußte. Keine Gewalt des Universums vermochte ihm Schaden
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