Ballnacht in Colston Hall
wollte sich gar nicht mit ihm schlagen. Das weiß ich ganz genau.”
“Komm, Lydia”, sagte die Mutter geduldig, “wir wollen nun nicht mehr über den Fehler oder über die Schuld von irgendjemandem sprechen. Verstehst du das?”
Lydia nickte wortlos, obwohl sie es nicht verstand. Sie würde von jetzt an vor der Mutter kein Wort mehr darüber verlieren, aber sie würde Ralph Latimer nie verzeihen, was er getan hatte.
Nie. Nie. Nie.
1. KAPITEL
Im März 1763
Auf dem europäischen Kontinent war ein siebenjähriger Krieg zu Ende gegangen, den König Friedrich II. von Preußen im Bunde mit Großbritannien-Hannover gegen eine Allianz sämtlicher anderen Großmächte Europas um den Besitz Schlesiens geführt und siegreich beendet hatte. An seiner Seite gehörte nun Großbritannien ebenfalls zu den Siegern, und so fanden auch dort im ganzen Lande ausgelassene Siegesfeiern statt, obwohl sich viele Stimmen erhoben, die behaupteten, der Friede von Hubertusburg sei kein Sieg gewesen, sondern nur ein beschämender Kompromiss. Dessen ungeachtet rüstete sich der kleine Hafenort und Marktflecken Malden zu einem Siegesball, der das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis der letzten Jahre werden sollte.
Die verwitwete Anne Fostyn hatte beschlossen, den Ball mit ihren beiden jüngsten Töchtern Lydia und Annabelle zu besuchen, obwohl die Beschaffung der dafür passenden Garderobe für alle drei zunächst ein kaum lösbares Problem erschien. Aber zu guter Letzt fand die Mutter auf dem Dachboden einen alten Koffer, der Kleider enthielt, die sie in den vergangenen besseren Tagen getragen hatte, und den sie nun vor den Augen der erwartungsvollen Mädchen auszupacken begann.
Als Erstes kam ein in einen Schutzbeutel verpacktes blassrosa Seidenkleid zum Vorschein, das aus zahllosen Ellen besten Materials bestand. “Diese Farbe wird Annabelle wunderbar kleiden”, sagte die Mutter und zog vorsichtig die dünne Baumwollhülle ab. “Und hier ist noch etwas, das wir passend machen können.” Sie kramte in dem Koffer und brachte ein gelbes Brokatgewand ans Tageslicht, dessen eingewebte Muster einen Ton dunkler waren. Prüfend hielt sie es an Lydias schlanke Gestalt. “Ja, es ist genau das Richtige für deine dunklere Tönung. Ich habe es getragen, als ich in deinem Alter war und zum ersten Male euerm Papa begegnete. Es hat sich sehr gut gehalten, wenn es auch völlig unmodern ist. Aber wir werden beide Kleider ändern.”
“Und was ist mit dir, Mama?” erkundigte sich Lydia.
“Oh, mein Graues mit den lila Streifen tut durchaus noch seine Dienste. Schließlich gehe ich ja nur zu eurer Begleitung mit, und in meinem Alter sollte man sich ohnehin nicht mehr so aufputzen wie ein Pfau, nicht wahr?”
Die Mutter war allerdings noch keineswegs alt und in Lydias Augen auch noch wunderschön. Sie hätte zweifellos noch einmal heiraten können, wenn sie nicht so mittellos gewesen wäre. Außerdem hatte sie, wie sie immer wieder betonte, überhaupt keine Lust auf eine zweite Ehe. “So wie ich bin, bin ich zufrieden”, pflegte sie zu erwidern, wenn irgendjemand diese Möglichkeit zur Sprache brachte. Lydia fragte sich zwar manches Mal, ob diese Behauptung wohl ehrlich gemeint sei. Doch sie unterließ es, danach zu fragen, sondern beschäftigte sich stattdessen lieber mit Überlegungen zur Umänderung der alten Kleider.
Annabelle konnte ihre Aufregung kaum noch zügeln und begann sofort, das für sie bestimmte Gewand aufzutrennen, während die Mutter sich auf der Suche nach einem passenden Schnitt in das
Magazin für Damen
vertiefte. “Ich freue mich ja so!”, erklärte die jüngste der Fostynschwestern mit strahlenden Augen. “Mein erster Ball! Ich kann es kaum erwarten.”
“Zweifellos gehst du davon aus, dass dir an diesem Abend jeder junge Mann zu Füßen liegen wird.” Nachsichtig lächelnd machte sich nun auch Lydia an die Arbeit.
“Oh, glaubst du, das wäre möglich? Ach, wie herrlich wäre es doch, wenn wir beide auf diesem Ball einen Ehemann finden würden!”
“Nun, wir haben ja zum Heiraten noch sehr viel Zeit, und es ist zudem ziemlich unwahrscheinlich, dass wir an jenem Abend irgendjemanden von Bedeutung treffen werden. Der Ball findet schließlich nur im Versammlungssaal statt, und hier in der Gegend kennt doch sowieso jeder jeden.”
“Vielleicht gibt es doch Neue in der Stadt – ganz bestimmt sogar. Jetzt, da der Krieg vorüber ist, kommen ja die Offiziere alle wieder nach Hause.”
“Du musst nicht so
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