Ballnacht in Colston Hall
erklärte Lydia. “Und wenn ich mit ihm leben müsste, würde unaufhörlich ein Messer in eine nicht verheilte Wunde gestoßen, denn er hätte damals das Duell verhindern können, bevor Papa auf dem Plan erschien. Er hätte sich überhaupt weigern können, Freddies Sekundant zu sein.”
“Dann hätte Freddie irgendeinen anderen gefunden. Aber es stimmt, Robert Dents Ruf ist nicht der Beste, und ich möchte meine Tochter nicht durch einen zwar reichen, aber liederlichen Ehemann unglücklich machen.”
“Und es gibt ja auch noch den Comte of Carlemont”, kicherte Annabelle. “So ein Dandy! Aber sehr höflich. Ihn würde das Geschwätz bestimmt nicht stören. Jetzt, da der Krieg zu Ende ist, würde er dich mit an den französischen Hof nehmen, und vielleicht würde es dort für Mama und mich auch einen Platz geben.”
“Ich will aber nicht nach Frankreich gehen!” Nach dieser entschiedenen Feststellung weigerte sich Lydia, noch ein weiteres Wort zu diesem Thema zu verlieren, und versuchte stattdessen, sich auf den Ball zu freuen so wie Annabelle und von einem Mann zu träumen, der ihren hohen Idealen von Liebe gerecht wurde. Er müsste hübsch und stark sein, aber vor allem freundlich und aufmerksam und dem Glücksspiel abhold. Er sollte sie hingebungsvoll lieben und nicht daran denken, sich eine Mätresse zu nehmen, da sie wunschlos glücklich miteinander wären. Und vielleicht könnte er sogar Freddie wieder …
Bei diesem letzten Gedanken biss sich Lydia auf die Lippe. Was sollten diese Träumereien? Sie hatten doch keine Ahnung, wo der Bruder sich aufhielt. Kurz nach seinem Weggang hatte er ein Mal geschrieben und mitgeteilt, dass er sich bei der Truppe hatte anwerben lassen. Seitdem wussten sie nicht einmal, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilte.
Als die beiden Mädchen gerade dabei waren, ihre Arbeit zusammenzupacken, weil es Zeit zum Abendessen war, erschien Janet mit der Meldung, dass ein Diener von Colston Hall mit einer Botschaft für Mistress Fostyn in der Küche warte. Lydia und Annabelle blickten sich verwundert an, während die Mutter sich erhob und wortlos in die Küche ging.
“Was mag er nur wollen”, überlegte Lydia, nachdem sich die Tür hinter der Mutter geschlossen hatte. “Ich begreife überhaupt nicht, warum Mutter immer noch einen Kniefall vor ihm macht.”
“Du meinst den Earl? Aber er hat doch nichts Unrechtes getan.”
“Was weißt du schon davon. Du warst schließlich nicht dabei.”
“Aber ich habe gehört, was geschehen ist. Jeder hat es gehört. Es war sein Sohn, der Papa erschossen hat, und nicht der Earl.”
“Er hat Freddie fortgeschickt. Und er hat uns unser Zuhause genommen.”
“Das musste er. Wir konnten doch nicht länger im Pfarrhaus wohnen bleiben, als ein neuer Vikar die Gemeinde übernommen hatte, nicht wahr? Und er hat uns hier eine angenehme Unterkunft geboten.”
“Das ist aber kein Grund dafür, dass Mama immer herbeigeeilt kommt, sobald die Countess unpässlich ist.”
In diesem Augenblick kehrte die Mutter ins Zimmer zurück. “Seine Lordschaft ist schwer gestürzt”, berichtete sie. “Man braucht mich im Herrenhaus.”
“Wieso das, Mama? Seine Lordschaft hat Diener in Hülle und Fülle, wenn er Pflege benötigt. Ich verstehe nicht, warum du auch noch hingehen sollst.”
“Ich muss, Lydia. Kümmere du dich um alles, solange ich fort bin, und wartet nicht mit dem Essen auf mich. Ich komme so schnell wie möglich zurück.”
Die Mutter legte sich einen Umhang über die Schultern, drückte sich eine Haube auf die Locken und verließ mit dem Diener des Earls das Haus.
Erst in der Morgendämmerung des nächsten Tages kehrte Mistress Fostyn nach Hause zurück. Lydia, die sehr unruhig geschlafen hatte, hörte ihre Schritte auf der Treppe und lief ihr im Nachthemd entgegen. Die Mutter sah blass und müde aus, und ihre Augen waren trüb von Tränen.
“Mama, was ist geschehen? Warum warst du so lange fort?”
“Er ist tot”, erwiderte die Mutter dumpf. “Der Earl of Blackwater ist tot.”
“Oh.” Lydia brachte es nicht fertig zu behaupten, es tue ihr leid. “Wie ist es nur so schnell gegangen?”
“Ich erzähle es euch später. Jetzt bin ich müde und brauche Ruhe.”
“Natürlich. Ich wecke Janet, damit sie dir beim Auskleiden hilft.”
“Nein, nein, das schaffe ich schon allein. Gehe du auch wieder ins Bett, damit du die anderen nicht störst. Später reden wir über alles.” Mit schweren Schritten ging die Mutter
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