Ballnacht in Colston Hall
PROLOG
Im Jahre 1753
In dem weiträumigen alten Pfarrhaus herrschte eine beinahe unheimliche Stille. Aber schließlich war es ja auch erst fünf Uhr am Morgen, als die achtjährige Lydia verstohlen aus dem Fenster blickte. Ein blasser rosiger Schimmer am Horizont über dem Moor zeigte an, dass die Morgendämmerung nicht mehr fern war. Jetzt jedoch bedeckte noch dichter grauer Nebel den Boden, sodass die Kronen der Bäume zur Linken stammlos in der Luft zu schweben schienen und die Dächer des Kirchdorfes Colston auf der rechten Seite in einem milchigen See schwammen. Nur der Stall und der Schuppen neben dem Haus standen bereits sichtbar auf festem, wenn auch noch feuchtem Grund und zeichneten sich mit dem Heraufkommen des Tageslichtes immer deutlicher ab.
Vielleicht geht Freddie doch nicht, dachte das Mädchen angstvoll. Vielleicht hatte die Verbundenheit zwischen dem geliebten Bruder und seinem langjährigen Freund, Lord Ralph Latimer, zu guter Letzt doch noch gesiegt, und es würde nichts Schreckliches geschehen. Vielleicht hatten sie den Streit begraben und dachten gar nicht mehr daran, sich zu duellieren. Es war doch auch unvorstellbar, dass irgendetwas – und sei es noch so misslich – die beiden jungen Männer dazu gebracht haben könnte, sich derartig zu hassen. Und dennoch … Gestern Abend hatte sie Freddie dabei überrascht, wie er in der Bibliothek Vaters Pistolen reinigte, und als sie ihn fragte, was er denn damit anfangen wolle, war er ärgerlich, ja, fast zornig geworden.
“Es gibt Dinge, die muss man einfach tun. Aber du solltest längst im Bett liegen und schlafen.”
“Aber was musst du denn tun?”
“Nichts. Gehe endlich schlafen. Wenn Vater dich hier sieht, wird er sehr ungehalten sein.”
“Er wird noch viel ungehaltener sein, wenn er dich mit seinen Pistolen erwischt. Du weißt schließlich, dass er niemandem erlaubt, sie anzufassen.”
“Sie werden wieder in der Schatulle liegen, bevor er sie überhaupt vermisst hat.” Der Bruder machte eine Pause und sah die jüngere Schwester eindringlich an. “Sofern du ihm nichts davon sagst.”
“Oh nein, Freddie, das würde ich doch nie tun! Warum bist du nur so böse?”
“Ich bin nicht böse, zumindest nicht mit dir. Aber ich werde es sein, wenn du nicht augenblicklich in dein Zimmer gehst und vergisst, dass du mich hier gesehen hast.”
“Die Pistolen sind aber sehr gefährlich. Du könntest damit totgeschossen werden!”
“Nun, in diesem Falle wäre der Ehre Genüge getan.”
Bei diesen Worten hatte Lydia schlagartig begriffen, dass Freddie sich duellieren wollte. Mistress Grey, ihre verehrte Lehrerin, war eine begeisterte Leserin romantischer Romane, in denen diese Art Zweikämpfe häufig vorkamen, und sie ließ die Bücher unbekümmert überall liegen. Lydia, deren Leselust geradezu unersättlich war, hatte sie alle verschlungen. Manchmal jedoch stand sogar in den Zeitungen etwas über Duelle. Zwar hatten die Eltern ihr verboten, die Zeitung zu lesen. Aber ein Verbot war für Lydia gleichbedeutend mit einer Aufforderung, und so studierte sie das örtliche Tageblatt im Verborgenen, sobald es in der Küche abgelegt worden war, um beim Feuermachen Verwendung zu finden.
“Aber wer hat denn deine Ehre verletzt?” wollte Lydia wissen.
“Ralph”, erwiderte Freddie mürrisch.
“Ralph ist doch dein bester Freund! Ihr seid immer unzertrennlich gewesen. Sogar die Universität in Cambridge habt ihr zusammen besucht. Wie kannst du dich mit ihm schlagen?”
“Ich habe keine Wahl. Er hat mich beleidigt. Und …” Freddie hielt inne, so als sei ihm eben erst eingefallen, dass seine Zuhörerin ja nur ein Kind von acht Jahren war. “Jetzt gehe aber ins Bett, und kein Wort zu irgendjemandem, oder ich ziehe dir das Fell über die Ohren!”, sagte er streng und fügte, als er das Lächeln der Kleinen über diese leere Drohung bemerkte, zornig hinzu: “Ich meine es ernst! Das ist kein Spaß.”
Erschrocken hatte Lydia die Bibliothek verlassen, war in ihr Zimmer gegangen und neben der fünfjährigen Annabelle unter die Decke gekrochen, nachdem sie sich lautlos ausgezogen hatte. Sie konnte indes keinen Schlaf finden, denn sie wusste nur zu gut, dass der ältere Bruder impulsiv und dickköpfig sein konnte – genauso wie sie selbst, was Mistress Grey ihr oft genug vorgehalten hatte. Aber könnte er deshalb sein Leben aufs Spiel setzen oder gar Ralph erschießen? Ralph war der Sohn des Earl of Blackwater, und es würde einen riesigen
Weitere Kostenlose Bücher