Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Raum, wo ich mich in dem Spiegel, in dem der Blick des Mannes in Schwarz stets gegenwärtig war, mir selbst gegenübergesehen hatte. Zwischen zwei schwarzen Lederbänden erspähte ich eine Lücke und stellte, ohne lange zu überlegen, die Mappe des Patrons hinein. Ich wollte schon wieder gehen, da wandte ich mich noch einmal um und trat erneut ans Regal. Ich zog den Band neben meinem Manuskript heraus und schlug ihn auf. Ich brauchte nur zwei Sätze zu lesen, um wieder das düstere Lachen hinter mir zu hören. Ich stellte ihn zurück und nahm aufs Geratewohl einen anderen, den ich rasch durchblätterte. Dann noch einen und einen weiteren, bis ich Dutzende von den Bänden in diesem Raum angeschaut und festgestellt hatte, dass sie in unterschiedlichen Schattierungen alle dieselben Worte enthielten, dass dieselben Bilder sie verdunkelten und dass sich in ihnen dieselbe Fabel wiederholte wie ein Pas de deux in einer unendlichen Spiegelgalerie. Lux Aeterna.
Als ich das Labyrinth verließ, erwartete mich Isabella auf einer Stufe sitzend, das von ihr ausgesuchte Buch in der Hand. Ich setzte mich neben sie, und sie lehnte den Kopf an meine Schulter.
»Danke, dass Sie mich hergebracht haben«, sagte sie.
Da wurde mir klar, dass ich diesen Ort nie wiedersehen würde, dass ich dazu verdammt war, von ihm zu träumen und die Erinnerung an ihn in mein Gedächtnis zu meißeln und mich glücklich zu schätzen, dass ich durch seine Gänge hatte streifen und seine Geheimnisse berühren dürfen. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, damit sich mir dieses Bild für immer einprägen konnte. Dann nahm ich Isabella bei der Hand, ohne mich noch einmal umzuschauen, und ging mit ihr zum Ausgang. Der Friedhof der Vergessenen Bücher blieb für immer hinter mir zurück.
Isabella begleitete mich auf die Mole, wo das Schiff wartete, das mich weit weg bringen sollte von dieser Stadt und von allem, was ich gekannt hatte.
»Wie hieß gleich noch mal der Kapitän?«
»Charon.«
»Finde ich gar nicht lustig.«
Ich umarmte sie ein letztes Mal und schaute ihr schweigend in die Augen. Unterwegs hatten wir vereinbart, dass es keine Abschiedsszene, keine feierlichen Worte oder Versprechungen geben würde. Als von Santa Maria del Mar die Mitternachtsschläge herüberdrangen, ging ich an Bord. Kapitän Olmo hieß mich willkommen und erbot sich, mir meine Kajüte zu zeigen. Ich wollte lieber noch warten. Die Besatzung löste die Taue, und langsam entfernte sich der Rumpf von der Mole. Ich stellte mich aufs Achterdeck und sah zu, wie die Stadt in einer Lichterflut zurückblieb. Isabella stand reglos da, ihren Blick auf meinen geheftet, bis sich die Mole in der Dunkelheit verlor und Barcelona als große Fata Morgana ins schwarze Wasser eintauchte. Eines nach dem anderen erloschen die Lichter der Stadt in der Ferne -und ich merkte, dass ich bereits begonnen hatte, mich zu erinnern.
Epilog
1945
Fünfzehn lange Jahre sind seit dem Abend vergangen, da ich für immer aus der Stadt der Verdammten floh. Lange Zeit führte ich ein Leben der Unsichtbarkeit und Abwesenheit im Namen eines ewig Fremden. Ich habe hundert Namen und ebenso viele Beschäftigungen angenommen, keiner und keine wirklich mein.
Ich bin in grenzenlosen Städten und winzigen Dörfern untergetaucht, wo niemand mehr eine Vergangenheit oder Zukunft besaß. Nirgends blieb ich länger als unbedingt nötig. Eher früh als spät floh ich wieder, ohne Ankündigung, und ließ nur zwei, drei alte Bücher und abgetragene Kleider in düsteren Zimmern zurück, wo die Zeit kein Erbarmen kannte und die Erinnerung brannte. Mein Gedächtnis kannte nur die Ungewissheit. Die Jahre haben mich gelehrt, im Körper eines Fremden zu hausen, der nicht wusste, ob er diese Verbrechen begangen hatte, die noch an seinen Händen zu riechen waren, ob er den Verstand verloren hatte und dazu verdammt war, durch die in Flammen stehende Welt zu irren, die er sich für einige Münzen und das Versprechen ersonnen hatte, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, der ihm jetzt als die süßeste aller Belohnungen erschien.
Oft habe ich mich gefragt, ob die von Inspektor Grandes auf mein Herz abgefeuerte Kugel die Seiten jenes Buches durchbohrt hatte und ob ich es war, der in jener am Himmel schwebenden Gondel gestorben war.
In meinen Pilgerjahren habe ich gesehen, wie die Hölle, die auf den Seiten im Auftrag des Patrons verheißen wird, auf meinen Wegen an Leben gewann. Tausendmal bin ich vor meinem eigenen
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