Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Schatten geflohen, immer zurückblickend, immer in der Hoffnung, ihn wiederzufinden, wenn ich um eine Ecke bog, auf der anderen Straßenseite oder an meinem Bett in den endlosen Stunden vor dem Morgengrauen. Nie habe ich es so weit kommen lassen, dass mich jemand gut genug kennengelernt hat, um mich zu fragen, warum ich nie älter würde, warum keine Falten in mein Gesicht träten, warum mein Spiegelbild dasselbe sei wie an jenem Abend, da ich Isabella an der Mole in Barcelona zurückließ – um keine Minute gealtert.
Es gab eine Zeit, da ich glaubte, sämtliche Schlupfwinkel der Welt aufgebraucht zu haben. Die Angst, das Leben und das Sterben von Erinnerungen hatten mich so müde gemacht, dass ich dort stehen blieb, wo die Erde aufhörte und ein Meer seinen Anfang nahm, das wie ich jeden Tag genauso wie am vorigen erwacht; ich ließ mich fallen.
Heute ist es ein Jahr her, dass ich an diesen Ort gekommen bin und zu meinem Namen und Beruf zurückgefunden habe. Ich habe diese alte Hütte am Strand gekauft, nur eben ein Schuppen, den ich mit den Büchern des ehemaligen Besitzers und einer Schreibmaschine teile, die ich mir gern als dieselbe vorstelle wie die, auf der ich Hunderte Seiten schrieb, von denen ich nie wissen werde, ob sich jemand an sie erinnert. Von meinem Fenster aus sehe ich einen kleinen, aufs Meer hinausführenden Holzsteg und an seinem Ende ein kleines Boot, das zum Haus gehört und mit dem ich manchmal bis zum Riff hinaus rudere, wo man die Küste fast aus den Augen verliert.
Ich hatte nicht wieder geschrieben, bis ich hierherkam. Als ich zum ersten Mal ein Blatt in die Maschine spannte und die Hände auf die Tasten setzte, befürchtete ich, keine einzige Zeile zustande zu bringen. Die ersten Seiten dieser Geschichte schrieb ich in meiner ersten Nacht in der Hütte am Strand. Ich schrieb bis zum Morgengrauen, wie ich es viele Jahre zuvor getan hatte, ohne zunächst zu wissen, für wen. Tagsüber spazierte ich den Strand entlang oder setzte mich auf den Steg vor der Hütte – ein paar Planken zwischen Himmel und Erde –, um die Berge alter Zeitungen zu lesen, die ich in einem der Schränke gefunden hatte. Auf ihren Seiten standen Kriegsgeschichten, Geschichten über eine Welt in Flammen, wie ich sie für den Patron erträumt hatte.
So kam es, dass ich, als ich diese Berichte über den Krieg in Spanien und danach in Europa und der Welt las, dachte, ich hätte nichts mehr zu verlieren, und mir nur wünschte, zu erfahren, ob es Isabella gut ging und sie sich noch an mich erinnerte. Oder vielleicht wollte ich auch nur wissen, ob sie noch lebte. Ich schrieb einen Brief an die alte Buchhandlung Sempere und Söhne in der Calle Santa Ana in Barcelona, der erst nach Wochen oder Monaten an seinem Bestimmungsort ankam. Als Absender gab ich Mr Rochester an, in dem Glauben, dass Isabella, wenn der Brief in ihre Hände gelänge, schon wüsste, um wen es sich handelte, und ihn, falls sie es wollte, ungeöffnet lassen und mich für immer vergessen könnte.
Monatelang schrieb ich an dieser Geschichte. Ich sah das Gesicht meines Vaters wieder und bewegte mich wieder in der Redaktion der Stimme der Industrie, wo ich davon träumte, eines Tages dem großen Pedro Vidal nachzueifern. Wieder sah ich Cristina Sagnier zum ersten Mal und betrat das Haus mit dem Turm, um in den Wahnsinn einzutauchen, der Diego Marlasca aufgezehrt hatte. Ich schrieb pausenlos von Mitternacht bis zum Morgenrot und fühlte mich zum ersten Mal seit meiner Flucht aus der Stadt wieder lebendig.
Irgendwann im Juni traf der Brief ein. Der Postbote hatte ihn unter meiner Tür durchgeschoben, als ich noch schlief. Er war an Mr Rochester adressiert und nannte als Absender schlicht die »Buchhandlung Sempere und Söhne, Barcelona«. Mehrere Minuten lief ich in der Hütte umher und traute mich nicht, ihn zu öffnen. Schließlich ging ich hinaus und setzte mich ans Meer, um ihn zu lesen. Der Umschlag enthielt ein Blatt und ein zweites, kleineres Kuvert. Dieses zweite, schon etwas angejahrt, trug nur meinen richtigen Namen, David, in einer Schrift, die ich trotz all der Jahre, die ich sie aus den Augen verloren hatte, sofort erkannt hatte.
In dem Brief erzählte mir Sempere junior, Isabella und er hätten nach mehreren Jahren stürmischer, bisweilen unterbrochener Verlobungszeit am 18. Januar 1935 in der Kirche Santa Ana geheiratet. Entgegen jeder Erwartung sei die Zeremonie von dem neunzigjährigen Priester zelebriert worden, der Señor Sempere zur
Weitere Kostenlose Bücher