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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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Weg, durchquert bäuchlings einen dichten Busch. Anne hat die Augen geschlossen. Der Tibeter wirft einen weiteren Blick auf Evan. Inzwischen ist er ein ganzes Stück vorangekommen. Der Bauer nimmt
seine Tasche ab, legt sie auf den Boden, kniet sich neben Anne und spricht ihr leise ins Ohr.
    »Sie werden bald sterben. Ich werde Sie ein wenig umlagern. Sorgen Sie sich nicht. Das wird Ihnen guttun. Es soll Ihrem Bewusstsein helfen, sich zu befreien.«
    Anne weiß, dass mit ihr gesprochen wird, aber sie erkennt nicht mehr, wer die Worte an sie richtet, unterscheidet nicht mehr zwischen ihnen. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Doch aufgrund ihrer guten Erziehung schöpft sie aus inneren Reserven, um mit einem wohlwollenden Zwinkern zu antworten. Der alte Mann bekundet sein Einverständnis, indem er kurz nickt, krempelt die Ärmel seiner Jacke hoch und schiebt eine Hand unter Annes Becken. Sie lässt es geschehen. Ihre Atmung beschleunigt sich. Der Bauer hebt sanft die Hüfte an und wendet den Körper auf die rechte Seite, in die gleiche Lage, die der Kopf auf dem Stein eingenommen hat. Seine Gesten sind gemessen und behutsam. Dann bewegt er die Waden nach oben, legt die Beine aufeinander, in eine Linie mit dem Oberkörper, und winkelt sie ab. Anne verzieht das Gesicht und seufzt. Er hält inne und beobachtet sie. Ihre Züge entkrampfen sich von einem Moment zum nächsten. Der Schmerz schwindet allmählich. Also nimmt er ihre linke Hand und legt sie flach auf den linken Schenkel, dann ihre rechte Hand, die er unter dem Kinn platziert.

    »Nun denn, es ist geschafft.«
    Er setzt sich und dreht den Kopf nach hinten. In der Nähe des Motorrads macht Evan sich zu schaffen. Mit Erde und Pflanzenresten bedeckt, auf allen vieren zwischen den verstreuten Gepäckstücken herumschnüffelnd, ähnelt er einem Tier. Der alte Mann seufzt, holt aus seiner Jackentasche eine Gebetsschnur hervor und beginnt mit der Rezitation der heiligen Sprüche.
    »O Buddhas und Bodhisattvas 7 , o Mitfühlender, diese Frau wird die hiesige Welt verlassen und aufs andere Ufer überwechseln. Es war nicht ihr Wunsch, zu sterben. Sie hat kein Obdach, keinen Menschen, der ihr hilft. Sie tritt ein ins Dunkel …«
    Anne öffnet den Mund, um zu atmen. Ihre Lippen sind trocken, die Zunge kreideweiß und geschwollen, der Blick starr. Sie hat eine Vision: eine dünne, spiegelnde Schicht Wasser breitet sich über den Boden aus, begleitet von einer eintönigen Litanei - die Stimme des alten Bauern. Sie ist nicht mehr als eine sonore Tiefe, die sich in Annes aufflackernde Bilder vollkommen einfügt.

    »… Sie stürzt in einen Abgrund. Sie durchquert einen finsteren Wald. Sie nimmt teil an einer großen Schlacht. O Gnädiger, werde ihre Zuflucht. Halte sie fern von der Unwissenheit. Errette sie aus den Zwischenzuständen. Hilf ihr, die Stürme des Karma heil zu überstehen. Lass sie nicht abgleiten in die unteren Welten. O Gnädiger, bediene dich deines Mitgefühls, um dieser Frau zu helfen …«
    Obwohl die Augen geöffnet sind, sieht Anne nur noch ihre Halluzinationen: Das Wasser verdunstet langsam und verlässt die irdische Oberfläche und steigt spiralförmig auf zu einem kristallklaren Himmel. Sie erschauert. Das sanfte Wogen ihres Bauches erfolgt in immer größeren Abständen. Ihr Herzrhythmus verlangsamt sich. Achtsam beschleunigt der alte Mann den Strom seiner Worte.
    »… Damit das Mitgefühl sie leiten kann, wenn sie keine Kraft mehr hat, wenn sie getrennt wird von denen, die sie lieben, wenn ihre Freunde sie nicht mehr unterstützen können und sie allein umherwandern muss. Damit sie bewusst und frei sein wird, ihre Geburt zu wählen, wenn sie der geschlechtlichen Vereinigung ihrer Eltern beiwohnt. Damit sie zum Wohl der anderen den besten Körper erhält, um ihre Ziele zu erreichen …«
    Der alte Mann nähert sich der Sterbenden.

    »... Junge Frau, höre mir gut zu. Dein Körper ist eingetreten in den Prozess der Auflösung. Alles löst sich auf, selbst du. Die Erde löst sich auf im Wasser, das Wasser löst sich auf im Feuer, und das Feuer löst sich auf in der Luft. Begreife, dass diese Wirklichkeit die deine ist, und hab keine Angst. Erkenne die Wahrheit und nimm sie an …«
    Anne zittert vom Kopf bis zu den Füßen, als würde sie frieren. Ihr weit aufgerissener Mund sucht nach Sauerstoff. Eine opalisierende Flüssigkeit rinnt aus der Nase die Wange hinab. Ihre Hose ist feucht. Sie hat ihre Schließmuskeln nicht mehr unter Kontrolle. Die Stimme des

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