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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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alten Mannes und die Geräusche der Umgebung verlieren an Intensität, verschmelzen allmählich mit der Kakophonie im Innern: mit ihren Herzschlägen, dem auf und ab fließenden Blut in ihren Adern, dem Gluckern ihrer Eingeweide. Der Atem geht immer schwerer. Die Augen weichen aus, verdrehen sich, kehren zurück.
    »… damit die Töne und die Lichter, die du hörst und siehst, sich nicht in Feinde verwandeln. Diese Töne sind deine eigenen Töne. Diese Lichter sind deine eigenen Lichter …«
    Die Halluzination, die Dunstspiralen und der Himmel versinken im Dunkel. An ihre Stelle tritt eine Myriade vielfarbiger Punkte. Sie fliegen hin und her,
tanzen in der Nacht, gleich einem Schwarm Glühwürmchen.
    »... Der Bardo im Augenblick des Todes kommt über dich. Gib jede Lust, jedes Verlangen und jede Bindung auf. Willige ein, deinen Körper zu verlassen. Er besteht nur aus vergänglichem Stoff, aus Fleisch und Blut. Klammere dich nicht an Illusionen.«
    Ein gewaltiger Donner erschallt. Die Glühwürmchen geraten in Panik, werden rot, gelb, orange. Sie stoßen gegeneinander, blähen sich maßlos und bedrohlich auf, bereit, alles zu verschlingen.
    Evan kehrt kriechend zurück, schleift den Verbandsbeutel hinter sich her. Der Donner, das war er, und er fährt fort.
    »Was haben Sie gemacht?! Was haben Sie bloß gemacht?!«
    Annes Bauch verkrampft sich. Sie schluchzt laut. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich die Angst ab. Evan hält neben dem alten Mann inne und beschimpft ihn weiter, schreiend.
    »Warum haben Sie sie bewegt?!«
    Der Tibeter schüttelt kräftig seine Hand und ermahnt ihn, nicht mehr zu schreien.
    »Hau ab! Scher dich zum Teufel!«
    Evan stößt den alten Mann so heftig weg, dass dieser auf den Rücken fällt, und beugt sich über Anne.

    »Anne, ich bin da. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«
    Ihre Augen sind verdreht. Auf das Einatmen, unterbrochen von den Kontraktionen des Zwerchfells, folgt jeweils ein langes Ausatmen. An ihrer Seite kämpft Evan damit, den Verbandsbeutel zu öffnen. Der Reißverschluss klemmt. Schließlich gelingt es ihm, den Beutel weit genug zu öffnen, indem er mehrmals am Schieber zerrt, und eine Hand hineinzuschieben. Er beeilt sich, den Inhalt auszuleeren: Verbandsrollen, Heftpflaster, Scheren, Blister mit Tabletten, eine Spritze. Alles ist durchnässt. Fahrig taucht Evan die Hand erneut in den Beutel, sucht den Boden ab und schreit auf. Er zieht die Hand heraus. An einem Finger klafft eine Schnittwunde. Er lutscht daran, umfasst die beiden Metallstreifen des Reißverschlusses und trennt sie gewaltsam. Der Beutel reißt auf. In einer durchlöcherten Plastikhülle befinden sich mehrere Fläschchen, alle zerbrochen.

    Der Hohlraum ist dunkel und feucht, umhüllt von einer durchsichtigen, rotgesprenkelten Membran. Keinerlei Geräusch ringsum, keinerlei Laut.
    Am höchsten Punkt bildet sich eine Träne aus Blut. Sie wird größer, rundet und dehnt sich unter ihrem Gewicht
und löst sich von der Wand. Der Tropfen fällt geruhsam herab und durchquert die längliche Kammer aus Fleisch. Am Boden zerplatzt er in zahllose kleine Perlen. Gegen das schimmernde Gewebe geschleudert, fließen sie nach unten, wo sie erneut sich vereinigen und verschmelzen, wie Quecksilber. Gewiegt von dem erstickten Zischen eines langen und tiefen Ausatmens, nimmt der Tropfen Blut wieder seine ursprüngliche Form an, kugelrund und rot; dann verharrt er reglos.
    Ein zweiter Blutstropfen bildet sich im Gewölbe der Kammer. Auch er löst sich, fällt langsam und explodiert auf dem ersten Tropfen. Die durch den Aufprall erzeugten Perlen stieben auseinander, rinnen ebenfalls Richtung Boden, verbinden sich zu einem größeren Tropfen, begleitet vom Geräusch eines zweiten Ausatmens.
    Ein dritter Tropfen fällt, zerplatzt, bildet sich neu und vermischt sich mit den beiden anderen, während das Ausatmen zum dritten Mal erfolgt. Dann herrscht völlige Stille. Nichts mehr bewegt sich. Das Herz hat zu schlagen aufgehört.

    Die Nacht hat sich auf den Berg gesenkt. Evans Körper wird von einigen Flammen erhellt. In seiner offenen Hand, die kraftlos auf dem Boden ruht, liegt Annes zerbrochenes Telefon. Sein Gesicht ist mit Tränen bedeckt. Ausgestreckt neben seiner Frau, starrt er vor sich hin ins Leere. Sie ist tot. Ihre Augen, ihr Mund weit aufgerissen. Auf den Zähnen sind einige schwärzliche Flecken erschienen. Die untere, auf dem Stein ruhende Gesichtshälfte ist gestreift mit geronnenem Blut und getrockneter

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