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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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Leiden zu befreien und den Zustand friedvoller Ruhe nicht mehr zu verlassen. Erkenne diese …«
    Er hält plötzlich inne. Aus Annes Scheitel entweicht ein transparenter Dunst, wie Wärme über dem Heizkörper. Ohne sich zu rühren, beobachtet der alte Mann aufmerksam das Phänomen. Der Dunst geht langsam in der warmen Luft auf, folgt den orangefarbenen, nach oben steigenden Flammen. Tsepel lächelt.
    »Edle Frau, dein Bewusstsein hat gerade unter besten Vorzeichen den Körper verlassen. Du wirst jetzt deinen Weg zur Befreiung fortsetzen. Du hast keinen Meister zur Seite, der dir hilft. Außerdem bitte ich dich um Konzentration. Erinnere dich an einen Menschen, dem du im Laufe deines Lebens begegnet bist, einen Menschen, den du wegen seiner Weisheit und Güte respektiert hast, einen Menschen, dem du vollkommen vertraut hast. Visualisiere diesen Menschen. Betrachte ihn als deinen Meister. Fülle dein Herz und deinen Geist mit all dem aus, was in ihm am besten war, und lausche meinen Worten, als wären es die seinen.«

Der Bardo der Wirklichkeit
    Der Fuß des Berges ist in Morgennebel getaucht. Wie mit einem gespenstischen Schleier bedeckt er das Tal. Alles ist ruhig und still; kein menschliches Wesen in Sicht. Die Gegend scheint unbewohnt, verlassen.
    Noch immer ist Evans Rücken an den Leichnam geschmiegt. Sein Gesicht trägt die Spuren der Tränenflüsse. Er hat sich nicht von der Stelle gerührt. Aus einigem Abstand betrachtet er den Campingkochtopf, der über der Glut an einer Schnur befestigt ist. Dampf steigt daraus hervor.
    Die schwielige Hand des Bauern erscheint, klopft ihm auf die Schulter. Obwohl Evan wach ist, fährt er zusammen und verzieht das Gesicht. Der alte Mann hält ihm eine Tasse hin und flüstert.
    »Hier, ich habe Ihnen einen Tee gekocht.«
    Evan dreht sich um. Anne hat sich nicht bewegt. Sie ist weiterhin da, auf der Seite ausgestreckt, mit dem Schlafsack bedeckt. Fliegen haben sich niedergelassen
auf ihren Lippen, an ihren Nasenlöchern, auf ihren Augen, die wie ein Opal aussehen. Evan wedelt mit der Hand, um sie zu verjagen, löst den Seidenschal, der um ihren Hals gebunden ist, faltet ihn auseinander und bedeckt das Gesicht der Geliebten. Der Tibeter verharrt über ihm, verfolgt jede seiner Gesten und wartet geduldig, die Tasse in der Hand. Evan wendet sich um und betrachtet ihn prüfend. Endlich fasst er einen Entschluss und nimmt die Tasse entgegen.
    »Danke.«
    Der alte Mann antwortet ihm mit einem freundlichen Lächeln. Er legt den Zeigefinger auf den Mund, um zu signalisieren, dass er schweigen solle, und setzt sich wieder an seinen Platz beim Feuer. Evan schlürft den Tee und beobachtet ihn. Der andere sammelt mehrere gestutzte Zweige ein, kehrt zu ihm zurück, geht in die Hocke und spricht mit äußerst leiser Stimme.
    »Dein Bein, es muss versorgt werden.«
    Evan reagiert nicht. Der alte Mann unternimmt einen weiteren Versuch, um sich verständlich zu machen. Er zeigt ihm die Stöcke und hält sie an die Wade, um eine Schiene anzudeuten.
    »Dein Bein muss behandelt werden.«
    Evan kann nicht umhin, höhnisch zu grinsen.
    »Was soll dieser Zirkus? Wollen Sie jetzt den Pfadfinder spielen?«

    Evan seufzt konsterniert.
    »Warum holen Sie nicht Hilfe?«
    Als hätte ihn plötzlich ein Schmerz ergriffen, kneift der Tibeter die Augen zusammen und bewegt die Hände in der Leere. Dann neigt er sein Ohr mehrmals Anne zu, um auf die Verbindung zwischen ihnen beiden hinzuweisen. Verblüfft sieht Evan ihn gestikulieren. Er wirft einen kurzen Blick auf Anne und schüttelt ungläubig den Kopf.
    »O nein, das darf nicht wahr sein!«
    Der Schal auf ihrem Gesicht wogt sanft in der Brise.
    »Sie glauben, dass sie hört …«
    Evan dreht sich dem alten Mann zu.
    »Stimmt’s?«
    Der Tibeter senkt den Kopf, um seine Zustimmung zu bekunden, und beginnt wieder zu flüstern.
    »Der Klang deiner Stimme kann ihr Angst einjagen und sie in die Irre führen, vor allem wenn du schreist oder wenn du weinst.«
    Erneut präsentiert er Evan die Stöcke.
    »Es hilft deiner Frau nicht, wenn du dich nicht kurierst.«
    Evan betrachtet ihn. Sein zerfurchtes Gesicht drückt Sorge aus. Evan seufzt.
    »Okay.«
    Evan stellt die Tasse ab und überblickt den Boden ringsum. Er beugt sich nach vorn, erhascht zwei Rollen
Verbandsmull sowie die Schere und schiebt sie in die Jackentasche des Bauern. Dann sammelt er die im Staub verstreuten Tablettenverpackungen ein und schaut sie durch. Er wählt eine davon, entnimmt ihr zwei

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