Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Übergang
Flughafen Pearson in Toronto, Kanada. Auf der großen Anzeigetafel wechseln die Flugnummern und Bestimmungsorte.
Aus den Lautsprechern erschallen die Ansagen. Gepäckwagen, beladen mit allerlei Koffern und Taschen, stoßen gegeneinander. Die Abflughalle wimmelt vor Menschen: Geschäftsleute, Mütter mit Kindern, Rucksackreisende, Rentnergruppen, aufgeregte Jugendliche, Polizisten, Stewardessen. Einige essen, andere trinken, lesen, telefonieren, diskutieren.
Inmitten des Chaos wartet Anne, eine junge Frau von etwa dreißig Jahren, in der Schlange vor dem Abfertigungsschalter 49, Ziel Kalkutta. Sie trägt eine Motorradjacke. Auf dem gekachelten Boden kniend, umgeben von den Beinen anderer Passagiere, kramt sie in ihrem Rucksack. Ein kleiner Leberfleck ziert den rechten Wangenknochen. Ihre Augen sind braun, genauso wie ihr kurzes, sorgfältig geschnittenes Haar.
»Wo hab ich nur diesen verdammten Reisepass hingetan?«
Neben ihr steht ein junger Mann, kaum älter als sie. Auch er trägt Lederkleidung und hat ebenfalls braune, sehr kurze Haare. Es ist Evan, Annes Lebensgefährte. Er lacht.
»Das fängt ja gut an!«
Ein etwa sechzig Jahre altes Ehepaar bleibt ein wenig im Hintergrund: Annes Eltern, Rose und John, der auch mal Jean hieß, als er noch in Frankreich lebte, wo die beiden herkommen.
John hält ein achtzehn Monate altes Mädchen auf dem Arm. Es trägt einen kleinen, leuchtend roten Fahrradhelm mit großen schwarzen Löchern. So ähnelt es einem Marienkäfer. Das ist Lucie, ihre Enkelin, die Tochter ihrer Tochter.
Rose lächelt amüsiert und schaut zu, wie Anne ihren Rucksack auspackt.
»Na bitte, Evan. Sie wollten doch ins Abenteuer aufbrechen. Mit Anne wird es Ihnen daran nicht mangeln!«
»Danke, dass Sie mir Mut machen, Schwiegermama!«
Fieberhaft reißt Anne verschiedene Gegenstände aus ihrem Rucksack und stapelt sie auf dem Boden übereinander. Darunter befinden sich mehrere Fotos. Auf einem
posiert sie mit einem eleganten, ungefähr fünfzigjährigen Mann, der die neugeborene Lucie auf dem Arm trägt.
Die Passagiere vor ihnen nehmen die Bordkarten entgegen.
»Danke.«
Die Mitarbeiterin des Bodenpersonals reagiert mit einem freundlichen Lächeln.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
»Da ist er ja!«, ruft Anne.
Immer noch auf Knien zeigt sie stolz ihren Pass.
»Er war im Reiseführer. Noch mal Glück gehabt.«
Evan ergreift den Pass, dreht sich um und reicht die Papiere der Hostess.
Besorgt beobachtet Rose ihre Tochter dabei, wie sie die Sachen hastig wieder einpackt.
»Hoffentlich habt ihr eure Mittel gegen Malaria mitgenommen. Ich habe keine Lust, euch krank wiederzusehen. Außerdem …«
John unterbricht sie.
»Rose, fang nicht wieder damit an. Sie sind groß genug!«
Anne macht eine nickende Kopfbewegung, verschnürt den Rucksack und richtet sich auf.
»Mama, Evan ist Krankenpfleger, wie du weißt? Und außerdem gibt es im Himalaya keine Malaria.«
»Oh! Das reicht. Regt euch nicht auf. Ich sorge mich ein bisschen, das ist alles. Es ist ganz normal, um die eigenen Kinder besorgt zu sein. Du bist doch auch besorgt, oder?«
John schaltet sich abermals ein.
»Rose, ich habe dich gebeten, damit aufzuhören.«
Anne schleift ihren Rucksack zum Schalter, hebt und wirft ihn achtlos auf das Förderband, um ihn wiegen zu lassen. Die Passagiere dahinter rücken ein paar Schritte vor, treten auf das vergessene Foto mit dem etwa fünfzigjährigen Mann, der Lucie als Säugling auf dem Arm trägt.
»Du hast ja recht, Mama. Aber gerade ich habe gute Gründe, besorgt zu sein, und das weißt du sehr wohl.«
Nervös nimmt sie Lucie aus dem Arm ihres Vaters und drückt der Kleinen einen innigen Kuss auf die Wange.
»Im Übrigen, da wir schon dabei sind, uns gegenseitig zu erinnern: Vergiss nicht, die Schranke oben an der Treppe fest zu verschließen und ihr den Helm aufzusetzen, sobald sie aufsteht, einverstanden?«
John seufzt. Rose verzieht das Gesicht.
»Ja, Anne. Das alles hast du uns schon tausendmal gesagt und außerdem …«
Sie zieht ein bedrucktes Blatt aus der Tasche und schwenkt es ironisch vor dem Gesicht ihrer Tochter.
»… hast du es uns aufgeschrieben.«
Anne lässt Lucie in ihren Armen hin und her hüpfen, als hätte sie das Bedürfnis, beruhigt zu werden.
»Ich weiß, aber das hindert dich nicht daran, nur das zu tun, was dir passt.«
Evan, der die Ellbogen auf den Schalter gegenüber der Hostess gestützt hat, unterbricht sie.
»Anne,
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