Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Tastatur und wartet. Der Telefonist betrachtet sie ungeniert. Ein wenig beschämt lächelt sie ihn flüchtig an. Endlich ertönt das Freizeichen. Anne seufzt erleichtert. Der Telefonist zwinkert ihr verführerisch zu. Anne seufzt erneut, diesmal gereizt. Sie kehrt ihm den Rücken zu. Ein Freizeichen folgt dem anderen. Niemand meldet sich. Im Saal liegen die Körper unbeweglich, wie verlassen. Anne kann sich des Gedankens an ein Leichenschauhaus nicht erwehren. Sie ist in Sorge.
Wieder und wieder hupt das Taxi. Der Tag bricht an und durchflutet die Straßen der Stadt mit bläulichem Licht. Vom Boden steigt ein Dunst auf und verleiht der Szenerie etwas Unwirkliches. Entlang der Fahrbahn reihen sich Bretterbuden und wiederverwertete Metallkanister aneinander. Hier und da trocknen Saris in leuchtenden Farben. Halb entkleidete Frauen spülen das Shampoo aus ihren langen schwarzen Haaren. Über kleinen Reisigfeuern dampfen Kochtöpfe. Die noch verschlafenen Kinder gehen ziellos umher und säubern sich mit Stöckchen die Zähne, während die Alten, eingewickelt
in schwere braune Decken, sitzen und genüsslich ihren Tee schlürfen. Pkws und Lastwagen fahren im Zickzack, um zu überholen oder den Handkarren, den Rikschas, den Kühen, den Bewohnern des Trottoirs auszuweichen.
Anne und Evan befinden sich auf dem Rücksitz. Sie ist verängstigt. Er versucht sie zu beruhigen.
»Mach dir nicht solche Sorgen. Wir werden beim Motorradverleiher eine Steckdose finden, und du wirst sie anrufen, einverstanden?«
Er drückt zärtlich ihren Oberschenkel.
»Schau aus dem Fenster. Wir sind in Kalkutta. Das ist doch unglaublich, oder?«
Der Chauffeur hupt erneut, um eine Gruppe von Schülern in tadellos gebügelten Anzügen zu warnen, die schreiend am Bordstein entlanglaufen.
»Stell dir vor, gestern waren wir noch auf der anderen Seite der Welt und haben im Restaurant des Krankenhauses eine Fleischpastete gegessen.«
Evan blickt nachdenklich aus dem Fenster.
Im kleinen, nur schwach beleuchteten Reisebüro reicht Anne ihr Telefon und ihr Ladegerät dem Besitzer, einem beleibten Herrn mit dunkler Haut, der gemütlich
in einem Chefsessel aus den Siebzigerjahren sitzt. Der ohrenbetäubende Lärm von der Straße und des Ventilators über ihren Köpfen zwingt sie dazu, laut zu sprechen.
»Könnte ich bei Ihnen die Batterie meines Telefons aufladen? Ich muss dringend jemanden anrufen.«
Der Besitzer schaut sie an und verzieht das Gesicht.
»Tut mir leid. Wir benutzen keine derartigen Stecker. Sie brauchen einen Adapter.«
»Ah. Könnte ich dann Ihr Telefon benutzen?«
Der Inder verzieht erneut das Gesicht.
»Für ein Ortsgespräch?«
»Nein. Ich muss meine Mutter in Kanada verständigen.«
»Oje! Ich bedaure. Die Verbindung ins Ausland ist blockiert. Das ist nicht möglich.«
Anne wird ungehalten.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Anne, beruhige dich!«
Evan sitzt am Tisch und betrachtet eine Landkarte des nordöstlichen Indien.
»Wir kaufen irgendwo einen Adapter, dann kannst du telefonieren.«
Anne steht auf, geht einige Schritte und lässt sich auf ein Sofa aus schwarzem Skai fallen, das im hinteren Teil des Raumes steht.
Evan ergreift wieder das Wort.
»Wie viele Tage braucht man bis Gangtok?«
»Schwer zu sagen. Das hängt vom Straßenzustand ab. Der Monsun war sehr heftig letztes Jahr, und gewisse Teilstrecken sind wahrscheinlich noch nicht ausgebessert worden.«
Der Inder setzt eine nachdenkliche Miene auf. Aus der hinteren Hosentasche zieht er ein Taschentuch hervor und wischt sich die vor Schweiß glänzende Stirn ab.
»Hm. Ich würde sagen drei bis vier Tage.«
»Okay. Gibt es auf der ganzen Strecke Zapfsäulen?«
»O nein! Bis Siliguri gibt es welche in regelmäßigen Abständen. Das ist eine vielbefahrene Nationalstraße. Aber dann muss man einen Reservekanister dabeihaben.«
Evan richtet sich auf und streckt sich.
»Gut. Möchtest du noch etwas wissen, Anne?«
Tief im Sofa sitzend, unter einem vergilbten Plakat, das die Touristenattraktionen Bengalens preist, starrt Anne unbeweglich vor sich hin und schüttelt den Kopf. Draußen auf der Straße, hinter der getönten, teilweise abgelösten Plastikfolie des Schaufensters trägt ein etwa zehnjähriges Mädchen einen ausgemergelten Säugling um die Hüfte. Mit der freien Hand klopft es unablässig gegen die Scheibe und führt sie dann zum Mund, um
anzudeuten, dass es Hunger hat. Anne kann den Blick nicht von dem Mädchen wenden. Der Besitzer des
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