Barins Dreieck
auf jeden Fall bis zu dem Tag, an dem Kerr und ich im Klosterkeller saßen und darüber grübelten, warum immer noch nichts von seinem Dahinscheiden bekannt geworden war, weder in den Zeitungen noch im Rundfunk oder Fernsehen. Obwohl doch seitdem mindestens vierundzwanzig Stunden vergangen sein mussten, jedenfalls so ungefähr.
»Und was war das mit dem Manuskript?«, fragte ich. Kerr bückte sich und wühlte in seiner Aktentasche, die an einem Tischbein lehnte. Zog einen gelben Ordner heraus, kreuz und quer mit einem Gummiband umwickelt.
»Das ist ja das verdammt Merkwürdige daran«, sagte er und wischte sich etwas nervös die Mundwinkel mit der Serviette ab.
Er schob die Gummibänder herunter und öffnete den Ordner, zog einen Papierbogen heraus, den obersten des Stapels, und reichte ihn mir. Er war handgeschrieben, schwarze Tinte, ziemlich ausladende Piktur. Ich erkannte sie wieder.
A., den 17. XI. 199-
Ich schicke Ihnen mein letztes Manuskript zur
Übersetzung und Veröffentlichung. Verboten ist jeglicher
Kontakt mit meinen Verlegern und anderen. Das Buch
darf unter keinen Umständen in meiner Muttersprache
herauskommen. Höchste Diskretion ist notwendig.
Hochachtungsvoll
Germund Rein
P.S. Das ist die einzige Kopie. Ich gehe davon aus, dass ich mich auf Sie verlassen kann. D.S.
Ich sah Kerr an.
»Was zum Teufel bedeutet das?«
Er breitete die Arme aus.
»Keine Ahnung.«
Er erklärte, dass das Paket am Tag zuvor angekommen sei, mit der Nachmittagspost, und dass er mehrere Male versucht habe, mit Rein telefonisch Kontakt aufzunehmen. Seine Versuche hätten, wie er sich ausdrückte, ein natürliches Ende gefunden, als Zimmermann ihn anrief und berichtete, dass Rein tot war.
Nach dieser Erläuterung saßen wir schweigend da und widmeten uns einige Minuten lang nur unserem Essen, und ich erinnere mich daran, dass es mir schwer fiel, den Blick von der gelben Mappe fern zu halten, die Kerr rechts von sich auf dem Tisch liegen hatte. Natürlich verspürte ich eine große Neugier, aber auch eine gewisse Verachtung. Mein letztes Treffen mit Rein hatte vor gut einem halben Jahr stattgefunden. Anlass war die Veröffentlichung seines letzten Buches in meiner Übersetzung gewesen. Die roten Schwestern hieß es. Wir hatten uns nur ganz kurz im Verlag gesehen, und wie üblich war er sehr wortkarg gewesen, fast schon autistisch, obwohl wir seine Anweisungen für die Pressekonferenz auf Punkt und Komma befolgt hatten. Wir hatten mit Champagner und Sherry angestoßen, Amundsen hatte seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass das Buch ein Erfolg werden möge, und Rein hatte in seinem verschlissenen alten Kordanzug dagesessen und ausgesehen, als sei Verachtung das einzige Gefühl, zu dem er sich eventuell noch aufraffen könnte. Eine graue, gleichgültige und desinteressierte Verachtung, die zu verbergen er überhaupt keinen Versuch machte.
Nein, es wäre gelogen, wollte ich behaupten, ich hegte irgendwelche wärmeren Gefühle für Germund Rein.
»Und?«, fragte ich schließlich.
Kerr kaute zu Ende und schluckte umständlich hinunter, bevor er den Blick hob und mich aus seinen bleichen Verlegeraugen ansah. Gleichzeitig legte er sein Besteck weg und begann, mit den Fingern auf die gelbe Mappe zu trommeln.
»Ich habe mit Amundsen geredet.«
Ich nickte. Natürlich. Amundsen war der Verlagsleiter und derjenige, der die letztendliche Verantwortung trug.
»Wir sind ganz einer Meinung.«
Ich wartete. Er hörte auf zu trommeln. Faltete stattdessen die Hände und schaute aus dem Fenster auf den Karlsplatz, die Straßenbahnen und Horden von Tauben. Mir war klar, dass er durch diese einfache Gebärde dem Augenblick das Gewicht verleihen wollte, das ihm zustand. Kerr war nicht gerade dafür bekannt, einen Effekt zu versäumen.
»Du kannst es nehmen. Wir wollen, dass du es sofort übersetzt.«
Ich gab keine Antwort.
»Wenn es genauso viele Anspielungen enthält wie das vorherige, dann ist es sicher am besten, wenn du nach A. fährst. Soweit mir bekannt ist, gibt es doch nichts, was dich hier bindet, oder?«
Das war eine vollkommen richtige Vermutung, wohl wahr. Seit drei Jahren hatte ich außer meiner zweifelhaften Arbeit und meiner eigenen Trägheit nichts, was mich an dem Ort hielt, und das wusste Kerr verdammt genau. Dennoch konnte ich mich natürlich nicht einfach so auf der Stelle entscheiden, vielleicht hatte ich auch das Gefühl, ich müsste die Verlagsleute ein paar Stunden auf die Folter spannen, deshalb
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