Barins Dreieck
so oder so zu anzunehmen.
»Ausgezeichnet«, sagte Kerr. »Das ehrt dich.«
»Unter der Voraussetzung, dass ihr mir ein halbes Jahr in A. finanziert«, fügte ich hinzu.
»Das wollten wir dir sowieso vorschlagen«, stellte Kerr fest. »Ich nehme an, dass du im Translators’ House wohnen kannst, oder?«
»Vermutlich«, erwiderte ich, und da der Whisky deutlich in den Schläfen zu spüren war, beendete ich das Gespräch. Ich beschloss, stattdessen einen Nachmittagsschlaf einzulegen. Das war am 23. November, und bevor ich einschlief, lag ich eine Weile da und dachte darüber nach, wie schnell es doch gehen kann, dass das Leben einfach auf ein ganz neues Gleis wechselt.
Das war kein fremder Gedanke, aber er hatte einige Jahre lang brach gelegen. Ob er mir anschließend noch in die Scheinwelt der Träume folgte, davon habe ich keine Ahnung. Auf jeden Fall habe ich keine Erinnerung daran. Überhaupt ist es selten, dass es mir gelingt, mir meine Träume ins Bewusstsein zu rufen, und die wenigen Male, dass sich das zutrug, dienten sie fast immer nur der Rechtfertigung meines Gemütszustands.
Natürlich ist das Vergessen ein sehr viel verlässlicherer Bundesgenosse als die Erinnerung, das habe ich immer wieder feststellen müssen.
D er 3. Januar war ein schrecklich kalter Tag. Die Temperatur fiel bis auf 15 Grad minus, und draußen auf dem Flugplatz wehte ein kräftiger, launischer Nordwind, der die meisten Abflüge um mehrere Stunden verspätete. Ich selbst war gezwungen, den ganzen Nachmittag in Erwartung meines Flugs in der Cafeteria zu verbringen, und hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken, worauf ich mich eigentlich einließ.
Vielleicht war es nur natürlich, dass dieses alte Gefühl der Austauschbarkeit sich über mich stülpte. Die Empfindung, dass alle diese Menschen, die um mich herum saßen und hingen oder ungeduldig zwischen den verschiedenen Taxfree-Läden herumirrten – alle aus ihren normalen Zusammenhängen herausgerissen –, eigentlich problemlos Platz und Identität hätten miteinander tauschen können. Dass es nur nötig wäre, unsere Pässe und Reisedokumente in einen großen Haufen auf den Boden zu legen und den Zufall – in Person irgendwelcher gelangweilter, anonymer Sicherheitspolizisten – uns ein neues Leben bescheren zu lassen. Willkürlich und gerecht, ohne jede Bevorzugung oder jedes Engagement.
Außerdem versuchte ich zu lesen. Nicht in Reins Manuskript, das Amundsen und Kerr am vergangenen Abend feierlich in einer kleinen Zeremonie bei mir abgeliefert hatten – ich hatte beschlossen, auf einen besseren Moment zu warten, mich ihm zu widmen –, nein, ich blätterte in ein paar dubiosen Kriminalromanen, die ich zwischen den Tagen gekauft hatte, und versuchte mich auf sie zu konzentrieren, aber keiner von ihnen vermochte mein Interesse so weit zu fesseln, dass ich dem Plot hinreichend folgen konnte.
Stattdessen dachte ich wie gesagt in erster Linie über die Situation nach. Über Ewa natürlich und darüber, wie ich die Suche nach ihr in A. gestalten sollte: inwieweit ich versuchen sollte, sie auf eigene Faust zu betreiben, oder ob es schlauer wäre, Kontakt mit einer Art Privatdetektiv aufzunehmen. Im Augenblick neigte ich dazu, erst einmal auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, um später vielleicht Hilfe zu suchen, wenn sie notwendig erschien.
Dass sie vielleicht überhaupt nicht notwendig sein könnte, ich glaube, darüber machte ich mir keine besonders großen Illusionen.
Aber in erster Linie dachte ich natürlich über Rein nach. Es war schwer, die Gedanken von ihm fern zu halten, auch wenn ich ehrlich gesagt keine große Lust hatte, seinen verfluchten Tod Tag und Nacht in meinem Kopf herumzuwälzen. Ich hatte das eine Zeit lang gemacht, es gab da nämlich einige Ungereimtheiten, und die würde es sicher so lange geben, bis man zumindest seine Leiche gefunden hätte.
Falls die jemals auftauchen würde. Die Neuigkeit von Reins Fortgang hatte sich seit dem Zeitpunkt, als Kerr den Telefonanruf von Zimmermann bekommen hatte, um fast vier Tage hingezogen. Soweit wir verstanden, beruhte das darauf, dass die Witwe des Schriftstellers sich geweigert hatte, den Abschiedsbrief als echt anzusehen, und jede Menge Analysen und Untersuchungen verlangt hatte, bevor sie die Tatsache akzeptierte und man mit der Meldung an die Presse gehen konnte. Und das auch erst, als das verlassene Motorboot gefunden worden war und gleichzeitig alle anderen Indizien in die
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