Barins Dreieck
I
I ch hatte zwei Gründe, nach A. zu reisen, vielleicht sogar drei, und weil es mein Ziel ist, über alles so genau wie möglich Rechenschaft abzulegen, wähle ich sie als Ausgangspunkt. Meine Reise nach A.
Wie ich es jetzt in dem noch nicht Geschriebenen sehe, besteht natürlich das Risiko, dass Sachen und Dinge verwischen, unklar werden. Dass es mir vielleicht nicht gänzlich gelingt, alle Ereignisse und Zusammenhänge auseinander zu halten. Und dann ist es natürlich eine gute Regel, wenn man sich an die Chronologie hält, die sich sowieso anbietet. Auch wenn ich – das ist zumindest meine Hoffnung – nicht der Versuchung verfallen bin, mich, so weit es geht, in das Urgestein der Zeit zurückzuverirren.
Wer kann sagen, wann etwas eigentlich anfängt?
Wer?
Der erste Anlass war also dieses Rundfunkkonzert. Beethovens Violinkonzert, das bekanntermaßen in D-Dur gespielt wird, es soll angeblich im Jahr 1806 in erster Linie für den Geiger Franz Clement geschrieben worden sein, und es heißt, dass Beethoven selbst es als so ein Meisterwerk ansah, dass er nie wieder versuchte, in diesem Genre etwas zu schreiben. Unübertrefflich, mit anderen Worten.
Wie üblich hatte ich es mir mit einer Decke über den Beinen auf meinem Barnedale-Sofa bequem gemacht. Ein Glas Portwein stand in Reichweite auf dem Tisch, dazu eine Schale mit Nüssen und eine einsame Kerze. Ich erinnere mich noch, wie mir der Gedanke kam, dass der leicht flackernde Lichtkegel in gewisser Weise den Abstand zwischen mir und der Musik zu gestalten schien, dieses undurchdringliche Land, die schwammige, aber definitive Grenze zwischen dem Ich und dem Es. Draußen peitschte ein hartnäckiger Regen gegen das Fenster, wir hatten schon Mitte November, und das Wetter war, wie es zu dieser Jahreszeit zu sein pflegt. Dunkel, nass und schwermütig. Böige Winde jagten durch die Straßen und Gassen, und die Temperatur war in den letzten Wochen zwischen Null und einigen Graden darüber hin und her gependelt. Nie höher.
Die Sendung begann wenige Minuten nach zwanzig Uhr, und ich befand mich bald in diesem Zustand, der sowohl starke Konzentration als auch Entspannung beinhaltet und der so charakteristisch, vielleicht auch einzigartig für ein gutes Musikerlebnis ist. Vielleicht bin ich auch für ein paar Minuten eingenickt, aber ich bin mir sicher, dass ich trotzdem nicht einen Ton von Corrado Blanchettis souveränem Spiel verpasst habe.
Das Husten kam ganz zum Schluss, gerade während der leisesten Partie vom Rondo, und es versetzte mir einen Schlag. Ich habe immer wieder sowohl über das Geräusch als auch über meine Reaktion darauf nachgedacht, und ich weiß, dass es eigentlich keinerlei Zweifel in irgendeiner Richtung daran gibt. Es war ein elektrischer Stoß, ganz einfach. Elektrisch. Emotional. Ich verfiel in einen Schockzustand, und er dauerte eine ganze Weile: Während ich abgestumpft dem Schlussakkord des Konzerts lauschte, während des folgenden Applauses und bis der Rundfunksprecher erklärte, dass wir gerade Beethovens Violinkonzert in einer Einspielung der Rundfunksymphoniker in A. genossen hätten. Der Solist sei Corrado Blanchetti gewesen, das Datum des Konzertes der 4. Mai dieses Jahres.
Ich will nicht leugnen, dass es trotzdem bereits vom ersten Augenblick an einen gewissen intellektuellen Zweifel gab. Auf eine bestimmte Art war mir der Gedanke, ich könnte mich verhört haben, fremd. Dass ich mich geirrt haben könnte. Ich überlegte, verwarf und analysierte diese nur Sekunden währende Hörerinnerung wirklich kritisch. Ich bin weiß Gott kein Mensch schneller Entschlüsse, aber in meinem tiefsten Inneren – im geschützten Raum der Gefühle – wusste ich natürlich, dass ich mich in keiner Weise selbst belogen hatte.
Das war sie gewesen. Das war Ewas Husten. Meine verschwundene Ehefrau hatte während dieser gut ein halbes Jahr alten Aufnahme irgendwo im Publikum gesessen, und auf Grund eines leichten Kratzens im Hals, das zu unterdrücken ihr nicht gelungen war, erhielt ich das erste Lebenszeichen von ihr seit mehr als drei Jahren.
Ein Husten aus A. Eineinhalb Minuten vor Ende von Beethovens Violinkonzert in D-Dur. Natürlich mag es sonderbar und unglaublich klingen, aber im Lichte von vielem anderen betrachtet, was mir früher und auch später noch zustieß, erscheint es wiederum gar nicht mehr so aufregend.
Es kostete mich eine gute Woche – neun Tage, um genau zu sein –, um an die Aufnahme des Rundfunksenders zu
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