Bator, Joanna
unwiderruflicher als
der Verlust der Tugend - scherten und mit Hans und Fritz in den Büschen des
Sandbergs knutschten. Vor dem Krieg hatte die Stadt ihre Grenze am Sandberg
gezogen, doch jetzt hatte sie ihn verschlungen und angefangen, ihn zu
verdauen, jetzt würde Walbrzych ihn nicht mehr loslassen. Wenn Frau Emmel, die
so gern beim Kuchenessen aus dem Fenster guckte, an den Fuß des Sandbergs
zurückkehrte, würde sie sehen, dass dem Hügel die grüne Haut abgezogen worden
war und dass er dampfte wie frisches Fleisch. Die kurzsichtige Frau Reuswig
würde ihren Augen nicht trauen und warten, bis Jürgen von der Arbeit in der
Glashütte zurückkam, wo er von morgens bis abends Glaskugeln blies, und ihr
bestätigen konnte, dass es keine Sinnestäuschung war. Sie würden den Sandberg
nicht wiedererkennen, und um zu glauben, dass es immer noch derselbe Ort ist,
hätten sie simultan aus der Sprache ihrer Erinnerung übersetzen müssen, dass
hier eine Birke wuchs, gekrümmt wie ein buckliger Zwerg, und dort, zwei, drei
Schritte nach links, da schnitt man den Klee für die Kaninchen. Daneben, wo
sich jetzt ein schlammiger Weg emporwindet, Heilige Mutter Gottes! da hat die
Großmutter das bayerische Tafelservice für zwölf Personen vergraben, mit rosa
Rosen, wie man es auf der ganzen Welt nicht mehr bekommt (sagt Frau Emmel).
Auf dem Hügel aus Sand, der oben abgeflacht
ist wie ein geköpftes Ei, sind schon ein paar Blocks fertiggestellt und warten
auf ihre Bewohner. Manche sind wie Stefan in den ehemals deutschen Häusern
aufgewachsen, wo sich ihre Eltern, aus den verlorenen in die wiedergewonnenen
Gebiete verschlagen, niedergelassen hatten, andere sind in masurischen Dörfchen
ausgerodet und wie von einem besoffenen Karren gerollte Kartoffeln in die
Walbrzycher Gruben gestopft worden. Die einen hatten Ostrobramer Madonnenbilder
im Koffer, die anderen Tschenstochauer, beide hatten zu Hause auf den
kalkgeweißten Wänden vergilbte Rechtecke hinterlassen. Die einen wie die anderen
hatten sich dort, woher sie kamen, mit wenig Platz beschränken müssen, das
verband sie und verlieh ihnen eine kollektive Wachsamkeit. Krumm hatten sie am
Tisch gehockt, um vor den anderen mit dem Löffel zur Stelle zu sein, hatten
auf dem Strohsack zwischen Schwester und Bruder gelegen, um es wärmer zu haben,
hatten den Kopf tief eingezogen, die Mütze in der Hand, um demütig zu bitten
und zu beten, doch jetzt richteten sie sich langsam auf. Sie sprachen fast
dieselbe rauhe Sprache, die knasterte wie ins Feuer geworfene Zapfen, doch oft
verstand der eine Nachbar den anderen nicht. Voller Hoffnung kamen sie mit
ihren Pappkoffern und in Vorfreude auf mehr Platz, der ihnen zustand, und sie
wunderten sich, wie es möglich war, dass sie ihn vorher nicht gehabt hatten.
Sie stiegen den ganzen Hügel hinauf, stapften hinter Stefan und Jadwiga her,
ihnen auf den Fersen, drängten sich auf die Baustelle und trieben zur Eile an.
Zweihundert Prozent der Norm! Zweihundertfünfzig!
Die Fenster- und Türrahmen auf
Piaskowa Göra geraten daher nicht ganz gerade. Die Wohnung von Stefan und
Jadzia im neunten Stock ist zwei Quadratmeter kleiner, doch dafür ein gutes
Dutzend Zentimeter höher als die im siebten, wo Familie Lepki mit Sohn Zbyszek
einzieht. Zwei Eingänge weiter ist den Kowaliks mit zwei Kindern, die ihnen
bereits bis zur Hüfte gehen, und der frisch eingetroffenen Edytka eine
Wohneinheit auf dem elften Stock zugewiesen worden, von wo aus sie die Nachbarn
Pasiak, Besitzer von Einzelkind Jagienka, im ersten Stock um die richtigen Maße
der Nische für einen dreitürigen Kleiderschrank beneiden, die bei ihnen zu
flach und schief ausgefallen ist. Jeder hat etwas, das besser, und etwas, das
schlechter geraten ist, doch die Unterschiede sind nicht groß. Es ist sehr
schön, dass auf Piaskowa Göra alle fast dasselbe haben, so gibt es schließlich
mal Gerechtigkeit.
Gleich wird Stefan Jadzia sagen,
sie soll die Augen schließen, und er wird sie über die Schwelle tragen, genauso,
wie er es sich ausgedacht hat - er wird sie hineintragen, und sie wird das
irgendwie ertragen, obwohl sie durchgefroren ist und von den neuen Schuhen
eine Blase an der Ferse hat. Stefan weiß, dass Frauen solche romantischen
Sachen mögen, bei sich nennt er es rheumatisch. Hatte Dziunia nicht dann, wenn
er ihr untern Rock wollte, verlangt: Stefek, sei doch mal ein bisschen
romantischer!? Deshalb fällt er vor seiner Frau auf die Knie, legt die Hand
aufs Herz und verdreht
Weitere Kostenlose Bücher