Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
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Rani Händlerin blickte über die Halle hinweg und hielt den Atem an, als ein Sonnenstrahl durch ein Fenster strömte und auf einen Stapel ungefärbter Seide schien, der bis zu ihrem Kopf reichte. Sie wandte sich zu dem großen Gaukler um, der neben ihr stand. »Tovin! Es ist wunderschön!«
»Das ist Geld stets.« Der Gaukler nickte, während er sich in der Halle umsah und offensichtlich registrierte, welche Händler zum Handeln bereit waren. Die Auktion würde zu Mittag beginnen, und die Anspannung in dem geräumigen Raum war greifbar. Rani folgte Tovins Blick zu einer Gruppe von Männern in schimmernden, weißen Umhängen, Kleidungsstücke, die das strahlende Sommersonnenlicht einfingen und in juwelengeschmücktem Schein zurückwarfen.
Sie deutete mit einer gewölbten Augenbraue auf die Besucher. »Also hat die Spinnengilde fünf Meister geschickt.«
»Sie wollen einfach sehen, welchen Schaden der Markt deines Halaravilli für sie anrichtet.«
Ihr Halaravilli. Rani hätte dem fast widersprochen. Hal gehörte nicht ihr. Schon seit fast drei Jahren nicht mehr, wenn überhaupt jemals. Hal gehörte Morenia. Er gehörte Königin Mareka.
Tovin war nur gereizt, weil Hal innerhalb von drei Tagen drei Boten zu ihr geschickt hatte. Der König hatte darauf bestanden, eine wichtige Sache mit ihr besprechen zu müssen, und doch wurde seine Aufmerksamkeit, als sie ihn pflichtgemäß aufsuchte, von der neuen Seidenhalle, von der Auktion, von der Gesandtschaft der liantinischen Spinnengilde vereinnahmt. Als er sie das letzte Mal rief, hatte sie einen ganzen Nachmittag darauf gewartet, dass er einige Augenblicke für sie erübrigen würde, nur um die Audienzhalle dann mit wirbelnden Röcken und Vermutungen zu verlassen, während Hal seine Aufmerksamkeit einem unbedeutenden Grenzstreit unter seinen Lords widmete.
Sie blieb bezüglich Hals Anspruch neugierig, musste sich aber um andere Dinge kümmern – Glasmalerdinge, Händlerdinge, Gauklerdinge. Der König würde mit ihr sprechen, wenn er bereit war. Im Moment würde sie versuchen, seine Ansprüche zu vergessen. Sie konnte ohnehin nichts tun, und sie mochte sich nicht der Schärfe in Tovins Stimme aussetzen, während sie wartete. Sie beschloss, seine letzte Bemerkung unbeachtet zu lassen.
Noch während sie diese bewusste Entscheidung traf, trat Hal ins Sonnenlicht, das sich auf dem Podest im vorderen Teil des Raumes sammelte. Er erstrahlte in seinem karmesinroten Gewand, ein Kleidungsstück, das aus der ersten Seidenernte seiner Octolaris-Spinnen geschneidert wurde. Hal hatte die Tiere mit Ranis Hilfe aus ihrem Zuhause in Liantine fortgeschafft, hatte das lange währende Monopol der fernen Spinnengilde gebrochen. Er hatte sie unter seinen Adligen verteilt, hatte sie dem neu gegründeten Orden der Octolaris übergeben und im Austausch wertvolle Goldbarren eingenommen.
Das Spinnengold hatte Hals Thron gesichert, bot ihm Sicherheit vor mächtigen Kräften, die sein Königreich vernichten wollten. Es hatte die unersättliche Kirche abgewehrt, die der Krone Geld geliehen hatte. Und noch wichtiger, hatte es Hals Ergebenheit gegenüber der Gefolgschaft aufgehoben, eine geheime, schattenhafte Organisation, die am Rande der moreanischen Politik lauerte und alle Verbindungen zwischen der Krone und anderen Nationen zu kontrollieren drohte.
Rani und Hal – und jetzt auch Tovin – waren Mitglieder dieser Geheimorganisation. Rani sah sich in der Halle um und fragte sich, wie viele der anderen Anwesenden bei der ersten Seidenauktion Mitglieder des Geheimbundes wären. Wie viele hatten an Treffen der geheimen Bruderschaft teilgenommen, ihre Gesichter hinter schwarzen Masken verborgen? Wie viele würden heute Seide kaufen und sie dazu verwenden, eine Gefolgschaftsmaske zu gestalten, den neu entdeckten Reichtum der Krone in ein Symbol geheimer Macht zu verwandeln?
Bevor Rani ihre Gedanken fortführen konnte, hob Hal eine Hand. Die Geste forderte sofortige Stille. Aller Augen in der Halle waren auf das Podest gerichtet, und man wartete darauf, dass die Gebote begännen.
»Geehrte Händler«, begann Hal, »willkommen in der Seidenhalle. Willkommen zum ersten neuen Markt, der seit dem schrecklichen Feuer vor drei Jahren in unserem schönen Land stattfindet. Möge Lor alle unsere hiesigen Handel mit Wohlwollen betrachten.«
Lor. Der Gott der Seide. Noch nie war einer der Tausend Götter in so kurzer Zeit so sehr im Ansehen gestiegen.
Hal fuhr fort. »Als ich die Octolaris
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