Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
abzuwischen. Der Mann wandte sich zum Fenster und dozierte: »Der Patient hat Glück gehabt. Die Kugel hat keine wichtigen Organe oder Knochen erwischt. Auch die Befürchtung, die Wirbelsäule könnte betroffen sein, hat sich nicht bestätigt. Dies liegt wohl an dem schrägen Eintrittswinkel der Kugel. Der Schütze scheint erhöht gestanden zu haben. Ich denke, in ein paar Tagen kann er auf die Normalstation und dann zügig entlassen werden.« Er schaute zu Lichthaus. »Anders ist die Lage bei dem Unfallopfer.«
Sie gingen zwei Krankenzimmer weiter. Der Raum war der identische Klon des Zimmers von Wessler, doch Görgen wurde beatmet und an den Armen hingen Infusionen. Eine Wand aus Monitoren überwachte jede Körperfunktion. Beide Beine steckten in Schienen.
»Die gute Nachricht: Es besteht die Chance, dass er überlebt, wenngleich ich sie nicht sonderlich hoch einschätze.«
»Wenn er es schafft, wann kann ich ihn frühestens befragen?«
Mbaye lachte auf. Es war ein trockenes humorloses Lachen. Unangenehm. Das Weiß seiner Augen durchzog ein Netz aus winzigen roten Äderchen, wie das eines Junkies. »Kaum ein Knochen ist unversehrt geblieben, Quetschungen der Organe. Die inneren Blutungen konnten die Kollegen stoppen, doch das größte Problem sind die Schäden im Hirn. Er hat hier wohl mehrere Traumata. Dazu können wir bisher nichts sagen. Gesetzt den Fall er überlebt, könnte er geistig behindert bleiben. Seine Erinnerungen an heute werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weg sein.«
»Und die von vor einigen Tagen?«
Der Riese zuckte mit den fleischigen Schultern. »Das muss man abwarten. Vernehmungsfähig ist er bestenfalls in ein paar Wochen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Lichthaus verneinte und verabschiedete sich von dem unbeteiligt dreinschauenden Mann. Er verfluchte Görgen, der durch seine reflexartige Aktion diese Katastrophe angerichtet hatte. Nun mussten sie ewig ohne seine Aussage klarkommen, während die Presse sich damit beschäftigen würde, jeden Stein umzudrehen und die Polizeiarbeit unter Beschuss zu nehmen. Er konnte schon die Schlagzeile sehen: Missglückte Polizeiaktion endet in Desaster. Sollte Görgen sich dann als zu Unrecht verdächtigt erweisen, wäre der Skandal perfekt.
Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Unterdrückte Wut und Verzweiflung quollen hervor: »Sind Sie Hauptkommissar Lichthaus?«
Er drehte sich herum und sah Sabine Görgen, erkannte sie sofort von den Fotos im Wohnzimmer auf dem Alleenhof wieder. Die hellbraunen Haare trug sie länger als früher und hatte sie jetzt zu einem Pferdeschwanz gebunden, auch zeigten sich kleine Fältchen um die Augen. Sie war eine große, hübsche Frau, wenngleich Angst und Schmerz tiefe Schatten auf sie warfen. »Ja, der bin ich.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht? Sie wollten ihn doch unbeschadet lassen?« Ihre Stimme schwoll an und troff von Vorwürfen. Sie blickte unter Tränen durch die Scheibe, hinter der das Beatmungsgerät rhythmisch pumpte und zischte, wobei sich Görgens Oberkörper wie ferngesteuert in gleichem Takt bewegte. »Schauen Sie ruhig hin, Herr Kommissar.«
»Es tut mir leid, nur ich kann aktuell wenig Mitgefühl für die Situation Ihres Mannes empfinden«, er fasste die besorgte Frau härter an, als es notwendig gewesen wäre, »denn es ist noch keine fünf Stunden her, da musste ich zusehen, wie eben Ihr Gatte einer jungen Kollegin den halben Kopf weggeschossen und einen anderen Kollegen schwer verletzt hat. Er liegt nur zwei Zimmer den Gang runter.«
Sabine Görgen taumelte von dem Fenster zurück und war zutiefst bestürzt. »Das wusste ich nicht. Aber ...«, sie verstummte kurz und setzte wieder an: »Wie konnte er das tun? Warum? Am Telefon hat er doch gesagt, er hätte nichts mit dem Mord an seinem Vater zu tun. Wieso diese Gewalt?« Drei Schritte weiter fand sie an der Wand Halt und bewegte sich stolpernd zu einem Stuhl hinüber, auf dem sie zusammensank.
Lichthaus trat an ihre Seite. »Wann hat er Ihnen das gesagt?«
»Heute Morgen. Ich habe ihn unmittelbar nach unserem Telefonat angerufen und Antworten verlangt. Er war völlig durchgedreht, so wie in seinen schlimmsten Zeiten.«
»Das hätten Sie besser gelassen. Er hat also schon auf uns gewartet.«
Wieder ein erstaunter Blick aus den blauen, geröteten Augen. Die Wahrheit hielt Einzug. »Sie glauben, ich ...«
»Nein, Sie haben normal reagiert. Nur konnte leider niemand mit seiner Reaktion rechnen. Was genau hat er gesagt?«
Tränen liefen
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