Beck Wissen - Materie - Von der Urmateria zum Leben
wonach „alles, was erzeugt wird, aus Materie erzeugt wird, und alles, was zugrunde geht, in irgendeiner Form von Materie zugrunde geht.“ {9} Für die Scholastik des christlichen Mittelalters wird der Erhaltungssatz der Materie auf die bereits durch Gott geschaffene Welt eingeschränkt. Aufgrund der Unzerstörbarkeit der Materie spekuliert man über das Dogma der Auferstehung des Fleisches am Ende aller Tage. Schließlich greift die scholastische Theologie (z.B. Thomas von Aquin) die aristotelische Materietheorie auf, um die Wandlung von Brot und Wein zu Christi Leib und Blut in der Eucharistie zu erklären. Danach bleiben zwar Eigenschaften (Akzidenzien) von Brot und Wein wie z.B. Volumen, Gewicht, Dichte, Farbe und Duft erhalten, während aber ihre Träger (Substanzen) in Christi Leib und Blut verwandelt werden (Transsubstantiation). Das Wunder besteht dann darin, daß die Accidentien, die nach aristotelischer Lehre keine Existenz unabhängig von ihrem Träger besitzen, erhalten bleiben, obwohl sich die Substanz ändert.
Aegidius Romanus verwendet um ca. 1280 die averroistischen Begriffe der bestimmten und unbestimmten Dimension der Materie, um zwischen dem Volumen der Materie als meßbarer Größe und der Menge der Materie als ihrer unveränderlichen Substanz zu unterscheiden. {10} So ändert sich bei Verdünnung und Verdichtung der Materie ihr Volumen, während ihre Menge erhalten bleibt. Die Menge der Materie (quantitas materiae) ist also der Träger (Substanz) ihrer räumlich-geometrischen Ausdehnung. Damit kündigt sich eine folgenschwere Unterscheidung des Materiebegriffs für die neuzeitliche Physik an: Die Materie eines Körpers ist nicht nur seine Ausdehnung, wie Descartes behaupten wird. Dann wäre Physik nichts anderes als Geometrie. Für Newton wird die schwere und träge Masse eines Körpers zum Träger seiner Ausdehnung. Allerdings verharrt die scholastische Materietheorie in der aristotelischen Tradition, wonach die Schwere nur als Eigenschaft (Akzidens) eines Körpers, aber nicht als eigenständige Kraft (Substanz) verstanden werden kann, die der Körpermasse proportional ist. {11}
Wie hängt die Bewegung eines Körpers mit seiner Menge der Materie zusammen? Nach aristotelischer Auffassung hat jede Bewegung einen Beweger und hält nur bei Fortdauer einer Krafteinwirkung an. Daher wurde z.B. beim Wurf vermutet, daß das umgebende Medium des geworfenen Körpers (z.B. Luft) bei der Bewegung mitwirkt. Demgegenüber erklärte im 6. Jahrhundert der Aristoteles-Kommentator Philoponos die Wurfbewegung alleine dadurch, daß dem geworfenen Gegenstand eine allmählich abklingende Bewegungskraft (Impetus) übertragen wird. {12} Im 14. Jahrhundert verwendete John Buridan den Begriff der Menge der Materie, um Beobachtungen und Experimente zu erklären, wonach die Wirkung der gleichen bewegenden Kraft einen Stein zwingt, sich weiter fortzubewegen als eine Feder oder ein Stück Eisen weiter als ein Stück Holz von gleicher Größe. Die Menge der Materie bestimmt nach Buridan die Aufnahmefähigkeit für den Impetus eines Körpers. Allerdings wird Widerstand von Buridan noch in aristotelischer Tradition als reale Gegenkraft und nicht als Trägheit der Körpermasse verstanden. Ebenso ist der Impetus noch keine Bewegungsgröße, obwohl er als der Menge der Materie und der Geschwindigkeit eines Körpers proportional angenommen wird.
II. Materie im Weltbild der klassischen Physik
In der klassischen Physik wird Materie zu einer meß- und berechenbaren Größe. Im Zentrum steht Newtons Unterscheidung der trägen und schweren Masse materieller Körper. Charakteristisch für die klassische Physik ist ferner die Abgrenzung der Materie als Masse von der Energie, für die Gesetze der Erhaltung und Umwandlung formuliert werden. Auf diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund beginnen im 18. und 19. Jahrhundert die technisch-industriellen Nutzungen der Materie ebenso wie die philosophischen Diskussionen des Materiebegriffs.
1. Materie in der frühneuzeitlichen Physik
Am Beispiel des freien Falls und der schiefen Ebene weist Galilei (1564–1642) auf die Trägheit als „reale Qualität“ eines Körpers hin, die Widerstand gegen eine Bewegung hervorruft. {13} Trägheit ist für Kepler (1571–1630) eine charakteristische Eigenschaft der Materie, die als der Menge der Materie (z.B. eines Planeten) in einem gegebenen Volumen (also der Dichte der Materie) proportional angenommen wird. Damit
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