Beerensommer
davonläuft.
»Komisch, dass es praktisch keine Männer in unserem Leben gibt«, hat sie einmal herausfordernd zu ihrer Mutter gesagt und Marie Helmbrecht, bleich und ausgezehrt vom Krebs und von ständigem Husten geschüttelt, denn die Metastasen hatten sich bereits in der Lunge festgesetzt, hat sich mühsam aufgerichtet und ihre Tochter angeschaut. »Die gibt es schon, aber sie spielen keine Rolle in unserem Leben.«
Daran muss Anna denken, als sie auf dem Boden sitzend und den Kopf gegen die alte Kommode gelehnt die Platanen betrachtet, die vor den hohen Bogenfenstern ihre grün überhauchten Arme ausstrecken. Nein, Mama, da hast du nicht recht gehabt. Sie seufzt. Für mich spielen sie eine Rolle. Du hast nichts von der Vergangenheit wissen wollen, vor allem nicht, als du die letzten zwei Jahre so verzweifelt um eine Zukunft gekämpft hast. Als dich der Krebs aufgefressen hat, die Krake, die dich erstickt hat. Du hast all deine Kraft für dieses Ungeheuer gebraucht und wolltest dich nicht erinnern. Aber es ist umsonst gewesen und jetzt hast du mich allein gelassen mit all meinen Fragen und ich hab nur diese Fotos mit den Gesichtern, die mir nichts sagen.
Wieder und wieder schluckt Anna die Tränen hinunter. Ich muss es doch auch wegen des Erbes wissen ... Das Erbe, also das alte Häuschen dort irgendwo im Schwarzwald, das vom Urgroßvater stammt ... So viele Jahre steht es schon leer, aber pünktlich zu Weihnachten ist immer ein Brief nach Berlin gekommen: Krakelige, schiefe Buchstaben auf billigem Papier und die Mutter hat jedes Mal unwillig den Kopf geschüttelt.
»Wie immer Post von der alten Gretl. Was sie mit dem Haus machen sollen, der Holzwurm sei drin! Meinetwegen. Soll doch die alte Hütte eines Tages zusammenfallen. Meinen Fuß setz ich nie wieder da hinein!«
»Warum denn nicht?«, hat Anna damals gefragt. Schließlich sei sie doch darin aufgewachsen.
»Eben«, hat Mama geantwortet. »Und das war schlimm genug, immer der Gestank nach Pisse und Bohnerwachs. Pisse, weil wir ein Plumpsklo hatten, kannst du dir das vorstellen? Nein, Anna, das sind keine schönen Erinnerungen.«
Von unten hört Anna Gianni fluchen und das Geklapper von Töpfen und Pfannen. Plötzlich befällt sie die Angst. Eine mächtige, würgende Angst.
Ich bin allein, denkt sie. Ich bin ganz allein. »Mutterseelenallein«, im wahrsten Sinn des Wortes! Ich, Anna Helmbrecht – Schule geschmissen nach der zwölften Klasse und vom Leben keine Ahnung. Meine Welt besteht bis jetzt aus einem zwanzig Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Zimmer, aus hallenden Krankenhausfluren, bangem Hoffen und schließlich dem unendlichen Warten auf das Ende, auf Mamas Tod.
Ihr kommt es in diesem Moment so vor, als sei nun auch für sie alles zu Ende. Wie soll das Leben weitergehen? Was ist das überhaupt: Leben? Und wie soll ich wissen, wie es weitergeht, wenn ich nicht einmal den Anfang von allem kenne? Ein seltsames Gefühl, so in der Luft zu hängen, denkt sie, wie ein einzelner, loser Faden, bei dem man nicht erkennen kann, wozu er eigentlich gehört. Was bin ich jetzt? Halbwaise nennt man das, glaube ich. Waise – das klingt nach Einsamkeit und Entbehrung. Wenigstens die Wohnung gehört mir. Das hat Mama immer gesagt: dass die Wohnung abbezahlt ist und mir gehört. Halbwaise, nur halb, denn einen Vater habe ich ja noch! Einen Vater, den ich nie richtig kennengelernt habe und der mit seiner neuen Familie im fernen Australien hockt. Er schreibt mir nette Briefe, ich müsste ihn unbedingt besuchen kommen, steht da immer wieder drin. Aber was soll ich da? Ich wäre doch bloß ein Gast, gehöre da nicht hin. Und drüben in der Kneipe, bei Pia und den anderen? Die sitzen jetzt da und träumen ihre alten Träume. Wo gehöre ich denn hin? Bloß noch zu den Bildern da drüben in den vergilbten Alben. Ja, zu den Toten, da gehöre ich hin.
Ihr Blick fällt auf etwas, das zusammengeknüllt auf der Armlehne des Sofas liegt. Es ist eine kleine gehäkelte Mütze. Zu Dutzenden hat sie diese Mützen gehäkelt, in allen Farben, für Mama, die nach den vielen Chemotherapien alle Haare verloren hat. Diese hier ist ganz bunt, in allen Farben des Regenbogens. »Mein Narrenkäppchen« hat Mama sie einmal lachend genannt und plötzlich muss Anna weinen. Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die jetzt sturzbachartig kommen. Und neben all dem Schmerz und dem Gefühl des Verlorenseins ist ein Gedanke in ihr, der immer stärker wird: Ich will wissen, wer
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