Beerensommer
Prolog
Plötzlich schreckt er aus einem unruhigen Schlaf hoch. Er lauscht. Da sind Stimmen, von überall her hört er Stimmen, die jetzt immer lauter werdend durch den Spalt der angelehnten Tür dringen. Die Stimmen klingen hart. Sie befehlen, drohen, es sind böse Stimmen.
Das hört Friedrich, obwohl er nicht verstehen kann, was sie sagen. Nun werden die Stimmen überlagert vom Knall zugeworfener Türen und wehklagenden, bittenden Rufen der Mutter und von draußen her hört er das Klappern der Fensterläden, die unter der Gewalt des auf- und abschwellenden Sturmes heftig gegen die Hauswand schlagen.
Es ist eine kalte, stürmische Septembernacht im Jahr 1911, in der Friedrich Weckerlin plötzlich mitten aus unruhigen Träumen und seinem bisherigen Leben gerissen wird. Er hat sich am frühen Abend in das Bett seines Vaters vergraben. Dessen Bild steht mit einem schwarzen Trauerflor geschmückt auf dem Nachttisch der Mutter. Es zeigt ein lächelndes Gesicht mit aufgezwirbeltem schwarzem Schnurrbart und ungebärdigen dunklen Locken, die in die breite Stirn fallen.
»Wie ein Zigeuner«, hat die Mutter immer gesagt und dabei zärtlich Vaters Haare zurückgestrichen. »Zigeunerblut, ihr habt Zigeunerblut und der Fritz sieht jetzt schon genauso aus wie du.«
Vor einer Woche ist der Vater gestorben und Friedrich kann noch schwach seinen Duft riechen, wenn er den Kopf in die Kissen wühlt; den Duft nach Zigarren und parfümierter Pomade. Außer dem Schmerz um seinen Tod aber hat der Vater Sorgen hinterlassen, viele Sorgen! Der heitere, lebensfrohe Mann ist hochverschuldet gestorben. Eine Zigarrenfabrik hatte er gegründet – »war übermütig geworden«, wie die Leute im Dorf sagen; denn der Maurermeister Friedrich Weckerlin ist ein angesehener Mann gewesen, ein wohlhabender dazu. Zwei Gesellen hat er gehabt und einen Lehrbuben, die Geschäfte sind nicht schlecht gegangen in diesen Jahren des Kaiserreichs. Aber er hat noch höher hinausgewollt, immer höher, hat die Fabrik gegründet und ist nun hochverschuldet gestorben. Auch bei seinem Tod ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, haben sich die Leute auf dem Kirchhof zugeraunt. Viel zu viel getrunken hat er in der letzten Zeit, hat die Sorgen vergessen wollen und eines Nachts ist er auf dem Nachhauseweg vom Wirtshaus in den Fluss gefallen. Ein paar Arbeiter haben ihn am nächsten Morgen aus der behäbig fließenden Enz herausgezogen. Unter den gellenden Schreien seiner Frau hat man ihn auf das Bett gelegt, in dem jetzt sein Ältester immer wieder verzweifelt nach Schlaf sucht, den Kopf in die Kissen wühlt und die Erinnerung an den Vater beschwört.
Und heute ist es eingetreten, das Schlimme, von dem die Mutter manchmal flüsternd gesprochen hat, wenn sie abends mit Friedrich am Küchentisch saß. Die Gläubiger sind gekommen und holen alles.
Plötzlich öffnet sich der Lichtspalt auf dem Fußboden, es wird hell, schwere Stiefel poltern auf den Dielenbrettern, harte Hände fassen nach Friedrich und zerren ihn aus dem Bett. Zitternd fährt der Junge in die Kleider, packt den kleinen Bruder, den dreijährigen Wilhelm, der sich heulend an die Mutter klammert. Sie lehnt schmal und erschöpft am Türrahmen und drückt Friedrich eine Tasche in die Hand, in die sie etwas Leibwäsche und Geschirr geworfen hat, misstrauisch beobachtet von den schwarz gekleideten Herren mit den steifen Kragen und den goldenen Uhrketten. Die jagen sie jetzt fort aus dem großen, stattlichen Haus in der Herrengasse.
»Wo sollen wir denn hin?«, ruft die Mutter noch, aber die hohe Eingangstür wird schon zugeschlagen. Die Mutter hastet hinüber zur Kirche mit der kleinen Emma auf dem Arm. Friedrich tappt tränenblind hinterher, in der einen Hand die Tasche, an der anderen den heulenden Wilhelm, der sich schreiend widersetzt. Verzweifelt pocht die Mutter an die Tür zum Pfarrhaus, aber der Herr Pfarrer liegt wohl in tiefem Schlaf, die Tür bleibt verschlossen.
In der Zwischenzeit stehen vor den Häusern Menschen, die die Flucht der Weckerlins beobachten. Bald findet sich eine gaffende Horde zusammen, die sich um die weinende Frau schart. Auf einmal teilt sich die Menge, der Wachtmeister kommt und führt die Weckerlins hinüber zum Lindenplatz, wo sich die Mutter erschöpft gegen den riesigen Baum lehnt, der dem Platz seinen Namen gegeben hat. Er sage dem Bürgermeister Bescheid, erklärt der Wachtmeister, und sie sollen hier auf ihn warten. Friedrich zittert vor Kälte. Sie ducken
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