talon011
Talon Nummer 11
„Im Schatten des Tempels“
von
Thomas Knip
Schatten zogen in einem irrwitzigen Tanz über die mächtigen Tempelmauern hinweg, eingehüllt in einen glutroten Schein, der ihr Spiel begleitete. Die Luft war erfüllt von dem dumpfen, monotonen Klang großer Trommeln, deren Echo tief im Inneren des Tempelbaus widerhallte.
Talon stand hoch aufgerichtet am Ende eines lang gezogenen Saals, dessen Decke im Zwielicht des flackernden Scheins der Ölpfannen verschwand. Seine Haut war verziert mit zahlreichen Ornamenten, die mit weißer Kalkfarbe ein kompliziertes Muster von Linien und Kreisen auf seinen schlanken, durchtrainierten Körper zeichneten. Wie in Trance folgte sein Blick der Prozession, deren Leben den Saal erfüllte.
Es war drei Tage her, dass Shion verschwunden war.
Noch brach sich das geheime Wissen, das ihm der schwarze Löwe hinterlassen hatte, nur selten einen Weg in sein Bewusstsein, einem Traum gleich, der nach dem Aufwachen langsam in die Erinnerung zurückkehrt. Doch je mehr er sich an das erinnerte, was tief im Inneren der Tempelanlagen geschehen war, desto mehr erfüllt ihn Panik. Eine unauslotbare Furcht, dem, was sich ihm offenbarte, nicht gewachsen zu sein.
Viel fremdartiger und ungreifbarer allerdings schien ihm das Bild, das sich ihm nun bot. Talon kannte die Dörfer und Stämme der Region. Nur wenige folgten noch dem Pfad der Traditionen. Fast alle hatten nur ein Ziel – so westlich wie möglich zu leben und alles gierig in sich aufzusaugen, was die erste Welt ihnen gnadenvoll überließ.
Nun präsentierte sich ihm eine andere Welt. Die Wächter, die zuvor Shion dienten, hatten die Nachricht von seinem Sieg an die Stämme übermittelt, und die Stammesältesten folgten. Talon zählte gut dreißig von ihnen, die an den Feierlichkeiten teilnahmen. Viele von ihnen waren gekleidet in traditionelle Gewänder, die sie oftmals seit Jahrzehnten nicht mehr getragen hatten. Er kannte kaum eines der Gesichter, weder das der Anführer noch das der Männer und Frauen, die sie begleiteten. Dennoch fühlte er sich in dem Kreis der Menschen aufgehoben wie seit Jahren an keinem Ort mehr.
Sein Blick senkte sich. Vor ihm, am Fuße des grob behauenen Podests, auf dem er stand, kauerten sich vier junge Frauen auf Teppichen und Decken, die man auf dem kühlen, steinernen Boden ausgebreitet hatte. Sein Harem … – Talon schüttelte innerlich den Kopf. N’kele, der Anführer seiner Garde, hatte ihn lange in die rituellen Verpflichtungen eingewiesen, die mit seiner Position verbunden waren. Langsam fühlte er sich dem hünenhaften Farbigen mit bronzefarbener Haut verbunden. Noch immer spürte er dessen Schwierigkeiten, mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Doch seine Aufrichtigkeit schenkte Talon Vertrauen in den Mann.
Als er jedoch erklärte, dass ihm als Ewiger Wächter des Tempels eine Auswahl von Frauen aus den umliegenden Stämmen zustand, hatte Talon laut aufgelacht. Er hatte es für einen Scherz gehalten, der antiquierten Vorstellungen entsprang. Als ihm jedoch die Ältesten ihre Aufwartung machten und ihm ihre Töchter vorführten, wurde ihm bewusst, wie ernst es N’kele – und den Anwesenden – damit war.
Zum Glück war er nicht gezwungen worden, unter den teilweise noch sehr jungen Frauen eine Auswahl zu treffen. Die Dorfältesten hatten sich untereinander abgesprochen und sich auf die vier Frauen geeinigt, die nun zu seinen Füßen Platz nahmen. Keine von ihnen wagte es, den Blick anzuheben oder etwas zu sagen. Sie saßen nur teilnahmslos vor ihm, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet.
Talon hatte bisher nicht einmal die Zeit gefunden, sie sich näher zu betrachten. Seine Aufmerksamkeit wurde von den Aufführungen der Männer beansprucht, die in rituellen Tänzen uralte Geschichten nacherzählten. Geschichten, deren Sinn der Mann mit den rotbraunen Haaren nur erahnen konnte. Sie handelten von der Zeit, als der Tempel von einem längst vergangenen Volk errichtet wurde, von den Mächten, die diese Gegend beherrschten und über das Land wüteten. Und von der Zeit Shions, der die Mächte band und dem Land den lange ersehnten Frieden schenkte.
Ein helles Kreischen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.
Die Flammen in den breiten Ölbecken wurden von einem heftigen Windstoß mitgerissen und fauchten durch die Luft. Dann erschütterte eine heftige Explosion das Gebäude. Staubwolken wirbelten auf und verschleierten die Sicht. Zahlreiche kleine Brocken fielen von der
Weitere Kostenlose Bücher